
Eine Szene mit Symbolcharakter
ISTANBUL. Der Ärger stand Toni Kroos in der 90. Minute sichtlich ins Gesicht geschrieben. Soeben hatte er sich nach einem taktischen Foul gegen Emre Mor eine Gelbe Karte abgeholt, doch der Groll von Reals Nummer 8 richtete sich in diesem Moment eher gegen die eigenen Teamkollegen denn gegen den Schiedsrichter. Der Grund: James Rodríguez und Karim Benzema hatten zuvor in überaus leichtsinniger Manier den Ball im Strafraum Galatasarays vertändelt und den Gastgebern so fast die Möglichkeit zu einem aussichtsreichen finalen Konter auf das 1:1 eröffnet – hätte Kroos nicht derart beherzt dazwischengefunkt.
Das Bemerkenswerte in jener Situation war jedoch tatsächlich die Reaktion des eigentlich so ruhigen und beherrschten Greifswalders, der nicht davor zurückschreckte, sich die gestandenen James und Benzema zur Brust zur nehmen und lautstark auf den Ernst der Lage hinzuweisen. Ein impulsiver Ausrutscher? Keineswegs, vielmehr ein Hinweis auf Kroos’ gestiegenes Standing innerhalb der Mannschaft während der letzten Jahre – und irgendwo auch symptomatisch für die Leistungen der Königlichen in den letzten Wochen. Am Ende ist es oft der deutsche Nationalspieler, der gemeinsam mit Kollege Casemiro die Kohlen aus dem Feuer holen muss. Steht Kroos, wie zuletzt beim 0:1 gegen Mallorca, nicht auf dem Feld, ist das Spiel der Blancos vor allem eines: reichlich Stückwerk.
Klagten Fans und Experten zu Beginn der Saison vor allem das Fehlen eines Ersatzes für Casemiro an, wurde in den letzten Wochen eine ganz andere Vakanz offensichtlich: Ohne Kroos fällt die gesamte Statik des Madrider Spiels in sich zusammen. Der Greifswalder zählte seit seiner Ankunft im Sommer 2014 zwar schon immer zu den unumstrittenen Stützen im königlichen Team, mittlerweile hat sich der Status des Mittelfeldstrategen jedoch hin zur Unverzichtbarkeit verschoben. Dies ist auch Zinédine Zidane bewusst, der dem Mittelfeldstrategen als einer der ersten Akteure nach der verkorksten vergangenen Spielzeit sein uneingeschränktes Vertrauen aussprach – und dieses Vertrauen nun in vollem Umfang zurückbezahlt bekommt.
Was, wenn Kroos einmal länger ausfällt?
Dass er in der vergangenen Saison – wie der Großteil der Mannschaft – bei weitem nicht sein bestes Niveau an den Tag legte, ist Kroos durchaus bewusst. Der Greifswalder schreckte im letzten Jahr auch keineswegs davor zurück, dies verbal deutlich zu formulieren und den Finger in die Wunde zu legen. Was viele Fans jedoch störte, war die oftmalige Diskrepanz zwischen dem Gesagten und den anschließenden Leistungen auf dem Platz, die auch bei Kroos teilweise weit auseinander lagen. Doch dieser Punkt scheint überwunden. „Ich bin physisch sehr gut drauf. Im Moment laufen die Dinge gut für mich. Das letzte Jahr war natürlich etwas schlechter. Ich fühle mich gut und will jetzt so weitermachen“, so Reals Metronom im Anschluss an das Galatasaray-Spiel.
In dieser Spielzeit geht Reals Nummer 8 mit Leistung voran und gehört seit Saisonbeginn konstant zu den stärksten Akteuren. Egal ob angekommene Pässe, Key-Pässe oder sogar das oftmals viel kritisierte Thema Balleroberungen – Kroos mischt in jeglichen Kategorien vorne mit, ist sogar LaLigas bester Schlüsselpass-Geber! Zudem positioniert sich Reals Mittelfeldstratege deutlich näher am gegnerischen Strafraum und sucht auch öfters den eigenen Abschluss. Dass aktuell bereits zwei Saisontreffer zu Buche stehen, scheint kein Zufall.
Das „Problem“ an Kroos’ bisherigen Auftritten: Sie sind derart dominant, dass in seiner Abwesenheit das Madrider Aufbauspiel komplett zum Erliegen kommt. Weil sich kein weiterer Spieler im Kader findet, der über vergleichbare strategische Fähigkeiten verfügt. Weil kein anderer Akteur ein ähnlich starkes Positions- und Passspiel vorweisen kann. Isco oder James Rodríguez? Im Gesamtpaket zwar kreativer, aber insgesamt doch ein gutes Stück offensiver ausgerichtet. Luka Modrić? Scheint langsam aber sicher doch über seinem Zenit und ist aktuell dabei, seinen Platz als Stammspieler nach und nach zu verlieren. Federico Valverde? Könnte Kroos’ Profil in Zukunft sehr nahe kommen, lebt aber eher von anderen Attributen. Was also wird Zidane tun, wenn der Greifswalder tatsächlich einmal längerfristig ausfallen sollte?
Hat Zidane einen Plan B?
Eine Antwort darauf hat „Zizou“ vermutlich nicht einmal selbst, wie der Auftritt in Mallorca (0:1) oder auch die Minuten nach Kroos’ Auswechslung in der ersten Hälfte gegen Granada (4:2), als man ein sicher geglaubtes Spiel fast noch aus der Hand gab, eindrucksvoll bewiesen. Deshalb stand der deutsche Nationalspieler bislang auch in elf von zwölf möglichen Pflichtspielen in der Startelf – nur Casemiro speilte einmal häufiger.
Mit Casemiro und dem aktuell stark aufspielenden Valverde scheint Zidane zumindest die perfekten Partner gefunden zu haben, um Kroos’ Stärken optimal zur Geltung zu bringen. Ansonsten wird der Franzose in den nächsten Monaten vermutlich vor allem eins tun: Hoffen und beten, dass sich sein vermutlich wichtigster Spieler nicht ernsthaft verletzt. Ansonsten könnten auf Real noch schwerere Zeiten als ohnehin zukommen, denn: Ohne Kroos nix los!
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