
MADRID. Real Madrid steht für Offensivspektakel, es steht für Tore, es steht für riskantes Angriffsspiel und dabei auch ab und an für den Hang, die Abwehrarbeit zu vernachlässigen. Die Madridistas auf den Rängen wollen Spektakel und viele Tore, ein 5:4 ist den meisten Fans lieber als ein 1:0. Nicht umsonst ist das 7:3-Europapokalfinale gegen Eintracht Frankfurt aus dem Jahre 1960 für so viele Anhänger der Merengues das Spiel schlechthin gewesen. Und was passiert jetzt? Real Madrid mausert sich von einer Mannschaft des Offensiv-Feuerwerks zu einer ergebnisorientierten Punktemaschine. Darf es das?
“Defense wins Championships”
Wie heißt es so schön? Der Zweck heiligt die Mittel. Es war nicht nur die rabenschwarze und völlig titellose Vorsaison, sondern auch die Tatsache, dass die Königlichen dem Erzrivalen aus Barcelona die letzten Jahre in LaLiga hinterher hecheln mussten, die sicherlich zum Umdenken geführt hatte. Bis auf die königliche Meisterschaft 2017 war man kaum noch in der Lage, ein ernsthaftes Wörtchen im Titelrennen mitzusprechen. “Wir standen lange nicht mehr an der Spitze”, erkannte auch Kapitän Ramos den aktuellen Höhenflug als ungewohntes Gefühl an. Zu wenig Konstanz gegen vermeintlich schwache Gegner hatte zu häufig Punkte gekostet. Während man bei Highlight-Spielen in der Champions League noch voll fokussiert schien, mangelte es zu häufig im Liga-Alltag an der Punkteausbeute – vor allem auch weil die Defensive wackelte. Zeit für einen Tapetenwechsel…
“Zizou” wurde schließlich zum Architekten des Umbruchs, vielen Übungsleitern hätte man diesen Prozess des Umdenkens bei den Blancos auch nicht zumuten können. Doch der Fußball-Schöngeist von einst fand die Balance und Zidane hat seine Truppe richtig eingestellt, geht bewusst weg vom “Hurra-Fußball” vergangener Tage und lässt taktisch geprägten, vor allem aber auch ergebnisorientierten Fußball spielen, wie es mustergültig der 1:0-Arbeitssieg vom vergangenen Wochenende gegen Real Valladolid beweist. Es war der sechste LaLiga-Triumph in Folge, womit die Ansage des Trainers aus dem April 2019, “die Liga wird unsere Priorität”, fett unterstrichen wurde. Nicht ohne Grund beschrieb der Franzose seine Meisterschaft 2017 als schönsten und wichtigsten Titel seiner Amtszeit, in welcher er immerhin auch dreimal die Königsklasse gewinnen konnte.
Nur 13 Gegentore: Beste Abwehr Europas
Ebenso, wie sich die Priorität von der Champions League hin zur nationalen Meisterschaft entwickelt hat, veränderte sich auch das Spielkonzept: Das Prunkstück ist nicht mehr der Angriff, sondern die Abwehrreihe zusammen mit Schlussmann Thibaut Courtois – das belegen auch eindrucksvoll die Zahlen. Mit 13 Gegentreffern in 21 Ligaspielen stellt Real Madrid die beste Defensive aller fünf Top-Ligen dar. Selbst Jürgen Klopps FC Liverpool, was auf der britischen Insel nahezu alles kurz und klein schießt, musste bis dato 15 Gegentreffer kassieren. Das in Frankreich dominierende Parist Saint-Germain sowie das grundsätzlich torknausrige Stade Reims haben bisher jeweils 14 Treffer hingenommen. Schaut man nach Italien, dem Land des “Catenaccio”, stellt aktuell Inter Mailand mit 18 gefangenen Toren die beste Abwehr und in Deutschland hat Gladbach bereits 21 Buden kassiert – und das bei zwei Spielen weniger.
Der Vergleich zeigt also: Auch international stellt Real Madrid mit diesen Werten die Spitze dar. Das unterstreicht auch die persönliche Bilanz von Thibaut Courtois in puncto “weißer Weste”: Nach 18 Paarungen hat er bereits zehn Mal keinen Gegentreffer hinnehmen müssen. Nur Jan Oblak von Atlético Madrid kommt in dieser Wertung auf dieselbe Anzahl, benötigte dafür allerdings drei Einsätze mehr. Die beiden deutschen Top-Torleute Marc-André ter Stegen (FC Barcelona) oder Manuel Neuer (FC Bayern) kommen in dieser Disziplin nur auf sechs aus 20 beziehungsweise sieben aus 19 Spielen “zu Null”. Heißt: Courtois und seine Vorderleute sind eine Bank! Verflogen die Kritik einstiger Tage.

Die Defensive gewinnt bekanntlich Titel, dazu kommt bei Real Madrid: Sie schießt auch immer mehr Tore! Denn zehn der 39 Liga-Treffer fielen durch Defensivspezialisten – Sergio Ramos und Casemiro stehen bei jeweils drei, Raphaël Varane bei zwei und Dani Carvajal sowie Nacho Fernández bei jeweils einem Treffer. Das macht über ein Viertel der Real-Tore durch Abwehrleute, und das nicht selten entscheidend wie zuletzt Carvajal gegen Alavés (2:1), Casemiro gegen Sevilla (2:1) oder nun Nacho gegen Valladolid (1:0).
Mit neuer Philosophie zu alten Erfolgen
Der Durst nach Titeln, er erscheint noch größer, als die Sehnsucht nach Torspektakel, weshalb die Anpassung der Philosophie des königlichen Fußballs toleriert wird. Bleibt also Zidanes Konzept bis zum 38. Spieltag so erfolgreich und wird es am Ende mit der Meisterschaft gekrönt, dann verzeihen die Madridistas auch, dass man mit ausbaufähigen 39 erzielten Toren aktuell “nur” die Nummer zwei in Spanien ist (hinter Barcelonas 50). Aktuell zählt die Platzierung – und die liegt dank zuletzt 19 Partien ohne Neiderlage an der Sonne. Selbst der eher zurückhaltende Courtois ist angesichts der aktuellen Formkurve dazu veranlasst, etwas forschere Töne anzustimmen und geht in die Offensive: “Wir visieren den Meistertitel an und haben dafür auch die Mannschaft.” Die Madridistas wird es freuen, zur Not (vorerst) auch ohne Schützenfeste.
Community-Beiträge