Analyse

Real in der Analyse: Defensiv wackelig, offensiv kein Durchkommen

16 Punkte bei 14:9 Toren bedeuten in der noch nicht bereinigten LaLiga-Tabelle nach dem 9. Spieltag Tabellenplatz Nummer vier. Zwar haben die Königlichen im Vergleich zu Spitzenreiter Real Sociedad (20 Punkte, 20:4 Tore) und Verfolger FC Villareal (18 Punkte, 13:9 Tore) eine Partie weniger absolviert – die bisherigen Auftritte der Blancos glichen jedoch einem Auf und Ab. REAL TOTAL nimmt die aktuelle sportliche Situation zum Anlass, um die größten Baustellen im Spiel der Zidane-Elf herauszuarbeiten.

586
Zidane hat sowohl vorne als auch hinten einige Probleme zu lösen – Foto: imago images

Noch sind alle Titel möglich – aber nur mit zunehmender Konstanz

Zwar hat die Tabelle nach neun Spieltagen – Real hat erst acht absolviert – noch keine endgültige Aussagekraft, Stärken und Schwächen der jeweiligen Titelkandidaten wurden allerdings bereits offenbart. Im Falle der Königlichen waren dabei vor allem die defensive Instabilität sowie die Schwierigkeit, Torchancen zu kreieren, offensichtlich.

Auch wenn die Königlichen nach dem Sieg gegen Inter Mailand noch in allen Wettbewerben im Rennen sind, scheinen taktische Adaptionen notwendig, sollen auch in der Corona-Saison 2020/21 Titel an der Concha Espina gefeiert werden. Diese Zwischenanalyse fokussiert vor allem folgende Aspekte, von denen REAL TOTAL glaubt, dass Veränderungen unumgänglich sind, um konstant auf Top-Niveau konkurrenzfähig zu sein:

  1. die mangelnde Abstimmung im Defensivverhalten
  2. die Problematik fehlender Aggressivität im Gegenpressing
  3. das Potenzial von Eden Hazard als Bereicherung des Offensivspiels

Zu viele Gegentore – horizontale und vertikale Abstimmung passt nicht

Stellte die Defensive um Kapitän Sergio Ramos mit lediglich 25 Gegentoren in 38 Partien (0,68 Gegentore pro Spiel, Liga-Bestwert) in der Meisterschaftssaison noch das Prunkstück dar, müssen die Blancos sich in der aktuellen Spielzeit vor allem bei Torhüter Thibaut Courtois bedanken, dass sie nicht schon mehr als neun Gegentreffer (1,13 pro Spiel) schlucken mussten. Doch woran liegt das?

In erster Linie scheinen die Königlichen Probleme zu haben, im Defensivverbund die optimale horizontale und vertikale Abstimmung zu finden und diese über 90 Minuten weitestgehend konstant in verschiedenen Situationen abzurufen. Ein eklatantes Beispiel hierfür ist etwa der zweite Gegentreffer im Königsklassen-Duell mit Inter Mailand (3:2): Hier entscheidet sich Varane, sich sehr tornah zu positionieren, während der Rest der Viererkette deutlich höher verteidigt. Der Franzose öffnet somit den Raum für einen Chipball in den entstandenden Zwischenraum er selbst sieht sich zwei Gegenspielern gegenüber und kann Inters Angriff lediglich verzögern und nicht etwa gezielt stoppen.

Varane steht deutlich tiefer positioniert als Mendy, Ramos und Vázquez. Somit sind Martínez und Perišić hinter der eigentlichen Abseitslinie anspielbar. Entweder muss Varane höher stehen oder zumindest Ramos und der ballnahe Außenverteidiger (hier Vázquez) eine tornähere Positon einnehmen, um dort dann in Überzahl zu verteidigen. – Screenshot: DAZN

Inter nutzt die Situation eiskalt aus, indem die Italiener den Ball schnell und tief auf Martínez spielen. Varane steht nun vor einem Entscheidungsproblem: Er orientiert sich in Richtung des Argentiniers und versucht, dessen Aktion zu verzögern. Martínez legt per Kopf jedoch direkt auf Nebenmann Perišić ab, dessen Schuss etwas glücklich ins Tor der Königlichen trudelt. Vázquez sieht hier etwas unglücklich aus – genau wie Ramos hat er aber keine Chance, einzugreifen. Vor allem die Tiefenstaffelung passt hier schlichtweg nicht.

Varane orientiert sich zu Martínez, der legt quer, Ramos und Vázquez kommen zu spät Screenshot: DAZN

Ein weiteres Beispiel für schwaches Defensivverhalten der Königlichen lieferte das Champions-League-Vorrundenspiel gegen Shakhtar Donetsk (2:3). Zwar hätte man hier sämtliche Gegentore als Negativbeispiele behandeln können, besonders ins Auge fällt jedoch der dritte Treffer: Hier kommen die Blancos nach einem erfolglosen Angriff überhaupt nicht in die defensive Ordnung. Beim Pass aus dem Mittelfeldzentrum ist Marcelo zu weit außen positioniert, während Varane und Militão das Zentrum noch nicht geschlossen haben. Besonders auffällig ist hier zudem, dass kein zentraler Mittelfeldspieler Anschluss zur Viererkette hat ein Problem, das sich bei den Hauptstädtern insbesondere dann besonders stark äußert, wenn Casemiro nicht auf dem Platz steht.

Die königliche Viererkette ist nach der Umschaltaktion der Gäste ungeordnet – eigentlich müssten sich die Verteidiger trichterförmig nach innen fallen lassen, um das Zentrum zu schließen – Screenshot: DAZN

Anstatt jedoch idealtypisch im Verbund im höchsten Tempo zurückzuweichen, bewegen sich hier nur Varane und Marcelo annährend im Vollsprint. Interessant ist das Verhalten von Militão (tornaher roter Kreis), der lediglich zurückjoggt. Rechtsverteidiger Mendy, hier nicht im Bild, bleibt sogar stehen.

Marcelo muss im Eins-gegen-Eins verteidigen, er verzögert den Angriff der Ukrainer zwar, bekommt aber nur wenig Hilfe Screenshot: DAZN

Bitter aus Real-Sicht: Solomon, der zunächst deutlich torferner steht als Militão läuft durch, bekommt das Leder und schließt binnen zwei Sekunden ab. An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass dieses Gegentor exemplarisch ist und nicht Militão im Speziellen kritisieren, sondern vielmehr verbesserungswürdige Verhaltensmuster des spanischen Meisters im Spiel gegen den Ball aufzeigen soll. So kommt es immer wieder vor, dass nach Ballverlust nicht alle Spieler handlungsschnell agieren, um die Situation im Kollektiv zu entschärfen. Zudem fehlt oftmals die Bindung zwischen den Mannschaftsteilen immer wieder drängt sich das Gefühl auf, dass die Spieler in vorderen Positionen der Abwehrkette die Verantwortung zuschieben. Ohne rückwärtiges Doppeln respektive Druckausüben sind die Chancen auf eine Balleroberung oder zumindest die Provokation eines weniger gefährlichen Abschlusses deutlich geringer, als wenn (fast) alle Spieler auch defensive Pflichten übernehmen.

Tore schießen leicht gemacht: Solomon kommt aus 14 Metern fast frei zum Schluss. Hier reicht es, einfach im Tempo durchzulaufen, um Militão aus dem Spiel zu nehmen. Screenshot: DAZN

Kein Gegenpressing oder Probleme an beiden Strafräumen

Anschließend an das suboptimale defensive Umschaltverhalten ist zudem die fehlende Aggressivität, die beispielsweise im Duell mit dem FC Valencia (1:4) zu beobachten war. Kehrte Real in der Vorsaison über weite Strecken zu dem starken Gegenpressing der ersten Zidane-Ära zurück, lassen die Königlichen in dieser Spielzeit oftmals die nötige Intensität vermissen. Klar ist: Die Sommerpause war enorm kurz, die Belastung ist hingegen immens hoch. Während als einerseits die Fitness im Hoch-Intensitätsbereich in der Breite gar nicht erarbeitet werden konnte, kostet der eng getaktete Spielplan aus Liga, Champions League, Länder- und bald auch Pokalspielen enorm Körner, sodass auch von Top-Profis nicht erwartet werden kann, dass sie in jedem Spiel an ihre Intensitätsgrenze gehen. Die vielen Patzer anderer Top-Teams zeigen das – Real Madrid ist hinsichtlich Physis und Frische keine Ausnahme.

Deshalb ist gerade in dieser sensiblen Phase der Saison (etwa bis Weihnachten) eine dosierte und langfristig ausgelegte Trainings- und Belastungssteuerung vermutlich der Schlüssel zum Erfolg. Es gilt, möglichst ohne große Verletzungen durch die Monate November und Dezember zu kommen und zugleich noch keine Titelchance aufgeben zu müssen.

Nichtsdestotrotz entsteht die größte Torgefahr vor dem eigenen Gehäuse aus Sicht des Meisters im bisherigen Saisonverlauf immer dann, wenn die Blancos den Ball verlieren und dann nicht schnell genug auf Defensive umschalten. Exemplarisch hierfür ist das 1:2 gegen den FC Valencia, das aus einem Ballverlust von (und vermeintlichen Foul an) Asensio resultierte. Dieser traf am rechten Flügel die falsche Entscheidung, indem er anstatt abzukappen und über Vázquez zu spielen in den Druck von drei Gegenspielern hineindribbelte. Nach dem Ballverlust spekulierte der Spanier dann auf einen Freistoß. Wäre er auf den Beinen geblieben, wäre ein Gegenpressing-Impuls möglich gewesen. Allerdings wäre dieses vermutlich auch eher ineffektiv gewesen, da lediglich Rechtsverteidiger Vázquez direkt hätte unterstützen können.

Asensio sieht sich gleich drei Gegenspielern gegenüber. Da der Konter nicht gut gesichert und auch ein Gegenpressing eher bei einem möglichen Ballverlust eher schwierig scheint, wäre der Pass auf Vázquez samt anschließender Spielverlagerung vermutlich die bessere Option gewesen Screenshot: DAZN

Daraus folgt, dass die Madrilenen zurzeit einerseits nicht selten die falsche Entscheidung treffen (das gilt nicht nur für Asensio, sondern fast alle Offensivspieler) und andererseits das Gegenpressing nicht mehr so effektiv wie in der Vorsaison zu greifen scheint. Normalerweise ist Zidanes Real dafür bekannt, die Räume stets so zu besetzen, dass nach Ballverlust in der ganz großen Mehrheit der Fälle direkt ins Gegenpressing übergegangen werden kann oder eben ein systematischer Rückzug eingeleitet wird. Ist die Positionierung einmal nicht ideal und der Konter nicht ausreichend gesichert, darf nicht in ein Risikodribbling (so wie Asensio hier) gegangen werden. Für all diese Mechanismen sind eine sehr gute physische Verfassung und mentale Frische jedoch die Grundvoraussetzung. Ist dies mal nicht gegeben, müssen die Entscheidungen hier Dribbling oder nicht noch bewusster getroffen werden.

Eine möglichst optimale (antizipative) Besetzung des Raums, so wie oben beschrieben, ist also vor allem dahingehend wichtig, im Falle eines Ballverlustes mehrere Handlungsoptionen vor allem Gegenpressing oder schnelles Schließen des Zentrums und Verzögerung des gegnerischen Angriffs zu haben. In dieser Szene fehlt die Bindung zwischen Abwehr und Mittelfeld komplett die Königlichen verteidigen im Prinzip sogar in einer Fünf-gegen-Sechs-Unterzahl (oder einer Drei-gegen-Drei-Gleichzahl, je nachdem, wie man die Situation interpretiert).

Asensio verliert den Ball und Valencia bespielt die sich ergebenden Räume gnadenlos – am Ende der Fehlerkette trifft Varane unglücklich ins eigene Tor Screenshot: DAZN

Essentiell scheint also, die körperliche Physis in Richtung Jahreswende sukzessive zu steigern, gezielt zu rotieren und bis dahin vor allem an den Bereichen taktische Disziplin und Entscheidungsfindung anzusetzen. Nicht zu unterschätzen ist hinsichtlich des Gegenpressings zudem der offensive Aspekt, der hier nicht weiter thematisiert werden soll: Ein hoher Ballgewinn aus einem erfolgreichen Gegenpressing heraus ermöglicht in der Regel einen gefährlichen Torabschluss binnen weniger Sekunden, da zum einen die Distanz zum Tor meistens sehr gering und zum anderen der Gegner tendenziell ungeordnet ist.

Hazard der Unterschiedsspieler?

Um dieser schwierigen Situation Herr zu werden, dürfte Zidane vor allem auf Eden Hazard setzen. Denn eines ist klar: Gerade in einer Phase, in der eine Mannschaft zwar oft gute Ballbesitzwerte hat (mit durchschnittlich 58 Prozent haben nur Sevilla und Barcelona mehr als Real), jedoch nur wenige klare Torchancen erarbeitet, bedarf es entweder konstant funktionierender taktischer Mittel: etwa Gegenpressing, extrem gute offensive Umschaltmomente sowie stark gespielte Standards – also allesamt jene Mittel, die die Königlichen in der Vergangenheit stark gemacht haben. Oder als zweites Mittel: Einzelkönner, die mit wenigen Aktionen die komplette Statik des Spiels ändern können.

Solche Aktionen braucht es öfter: Hazard setzt sich mit einer starken Bewegung gegen seinen Gegenspieler durch, verschafft sich dadurch Platz und versenkt den Ball wenige Sekunden spektakulär zum 1:0 Führung Screenshot: DAZN

Letzteres trifft auf Eden Hazard zu: Wie vermutlich kein Anderer im Kader des Meisters ist der Belgier dazu in der Lage, mit Tempowechseln und atemberaubenden Dribblings gleich mehrere Gegenspieler aus dem Spiel zu nehmen und binnen Bruchteilen von Sekunden eine Überzahlsituation zu kreieren, aus der er dann entweder selbst abschließen (so wie gegen Huesca) oder einen Mitspieler in Szene setzen kann. Deshalb scheint aus Sicht Zidanes wichtiger denn je, dass Hazard seine Form weiter steigert und dem Meister-Coach hilft, mit gezielten und beherzten Aktionen die sicherlich schwierige Saisonphase zu überstehen. Die Zeit benötigt der Franzose nämlich sicherlich, um die oben skizzierten Baustellen nachhaltig zu bearbeiten.

Mit Vinícius Júnior befindet sich ein weiterer Unterschiedsspieler im Kader, jedoch hat der 20-Jährige aufgrund seiner Unerfahrenheit noch eine hohe Streuung und Fehlerquote, gepaart mit einem unpräzisen Abschluss. Sicher ist aber: Hazard und Vinícius können theoretisch aus dem Nichts den Unterschied beschaffen.

Fazit: Ohne Geduld kein Erfolg

Zwar steht außer Frage, dass der Meister zurzeit nicht mit herrlichem Offensivfußball glänzt das ist angesichts der aus der Corona-Pandemie resultierenden, extrem kurzen Pause sowie der immens engen Taktung aber auch keine realistische Erwartung. Klubführung und Spieler wissen sicherlich nur zu gut, dass die aktuelle Phase eher logisch als eine große Krise ist. Wie für die meisten anderen europäischen Spitzenmannschaften gilt es auch für Real Madrid, die aktuelle Situation möglichst effizient zu meistern.

Das deckt sich auch mit Dani Carvajals Aussagen, der jüngst gegenüber der MARCA kundtat, dass die Fans ruhig bleiben sollen und die Blancos im März um sämtliche Titel mitspielen würden denn um nichts anderes, als diese Chance zu erhalten, geht es zurzeit.

Klar ist aber auch, dass “Zizou” die taktischen Probleme anpacken und sukzessive beheben muss. Teilweise sollte dies über mentale Komponenten, teilweise durch die Optimierung der Spritzigkeit möglich sein. Dann sollte die nominelle Qualität des Meisters ausreichen, um vor allem auf nationaler Ebene weitere Silberware gewinnen zu können. Den Kader dazu hat man, das bewies bereits 2019/20, als Hazard und Asensio sogar großenteils fehlten.

Reals Trikots 2020/21: Jetzt im Adidas-Onlineshop bestellen

0.00 avg. rating (0% score) - 0 votes
Kommentare
Meiner Meinung nach fehlt es an einer funktionierenden Taktik. Dass wir eine Taktik haben ist schwer zu übersehen, die besteht aus langweiligem Ballbesitz und ungefährlichen, ja schon fast lächerlichen Flanken.

Wenn Benzema als Stürmer beginnt tausende Flanken zu schlagen, dann wissen wir wie es um unseren Sturm steht. Miserabel.

Dass Vini nicht schiessen kann (genausowenig wie Flanken, Dribbeln oder passen) ist offensichtlich.
Er erinnert an Odriozola - kann geradeaus sprinten, am liebsten ohne Ball und das sehr schnell.

Trotzdem ist er einer unserer „besten“ Scorer zurzeit, das sagt viel aus!
Ich mag den Jungen sehr, aber ich kriege jeweils Augenkrebs, wenn ich ihn in der Nähe des tores sehe, da ich genau weiss, er drischt den Ball ins Himalayagebirge.

Von Jovic halte ich ohnehin wenig, und ich verstehe in dieser Hinsicht ZZ, dass er kaum Einsatzzeit erhält. Was mich sauer macht, ist, dass er Mariano versauern lässt. Ist dasselbe wie bei James, hat wohl mit dem enormen Stolz
von ZZ zu tun, dass er einfach Mariano nicht will, Punkt, Ende, aus, und wenn wir verlieren, egal, Mariano spielt nicht.

Da gib ich dir recht was du bezpglich Mariano schreibst... er hat den Willen mit seiner Power ein guter stürmer zu werden... sah ihn in März live gegen Barca... man habe ich ihm dieses Tor gegönnt... und wie sich der warm gemacht hat klasse spieler ... ZZ sollte ihn mehr spielen lassen
 

Verwandte Artikel

Reals Titel-Fundament: Warum die Defensive den Unterschied macht

Real Madrid brennt in dieser Saison (noch) kein Offensivspektakel ab. Doch während...

Trotz García-Aufschwung: Real muss einen Linksverteidiger holen

Die bisherigen Auftritte von Real Madrid bei der FIFA Klub-WM haben einige...

Güler blüht auf: Wie Alonso den Spielmacher der Zukunft formt

Real Madrids 1:0-Erfolg über Juventus Turin im Achtelfinale der Klub-WM war kein...

Klub-Überblick: Basketballer historisch, Blancas vor Umbruch

Real Madrid besteht aus mehr als nur den Profis der ersten Fußball-Mannschaft....