
WM-Debatte überschattet Reals Transfer-Coup
MADRID/MIAMI. Seine Verpflichtung als neuer Trainer von Real Madrid begann mit einem Knall: Einen Tag, nachdem die Königlichen verkündet hatten, dass Julen Lopetegui – zu jenem Zeitpunkt noch Trainer der spanischen Nationalmannschaft – nach Ende der Weltmeisterschaft die Nachfolge des zurückgetretenen Zinédine Zidanes antreten werde, wurde der Baske als Chefcoach von „la Roja“ entlassen – und das zwei Tage vor dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal. Dass das Kapitel des 51-Jährigen bei der Nationalmannschaft, die er zuvor so souverän und ohne Niederlage durch die Qualifikation geführt hatte, so unrühmlich endete, lag vor allem an einer Person: Verbandspräsident Luis Rubiales fühlte sich in seiner persönlichen Eitelkeit derart verletzt, dass er keinen anderen Ausweg sah, als Lopetegui unmittelbar vor Start des Interkontinental-Turniers zu feuern – und sich anschließend in allerlei Ungereimtheiten bei der Darstellung des Falls zu verrennen. Dass er Spaniens Chancen auf den Titel durch diese Handlung nicht gerade erhöhte, schien den Ex-Profi nicht wirklich zu stören. Die Quittung folgte rund zwei Wochen später, als „la Roja“ nach einem indisponierten Auftritt an Gastgeber Russland im Achtelfinale (3:4 nach Elfmeterschießen) scheiterte.
Lopetegui der Königstransfer?
Parallelen zwischen Spanien und Madrid
Wer nun radikale Veränderungen im Spiel der Madrilenen erwartet, dürfte enttäuscht werden. Klar: Insbesondere nach Cristiano Ronaldos Abgang und den zuletzt teils dürftigen Auftritten in LaLiga steht fest, dass sich das Spiel der Königlichen verändern wird und auch muss. Aber Real Madrid wird sich nicht von Grund auf erneuern, schließlich ist der Kern der Mannschaft noch immer derselbe. Am Ende des Tages geht es um kleine Veränderungen, die schlussendlich in der Summe eine große Wirkung entfalten sollen. Dafür scheint Lopetegui der richtige Mann zu sein. Ist er doch mehr Entwickler denn Revolutionär.
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Genau genommen ähnelt seine Aufgabe in Madrid derjenigen, die er beim Antritt als Spaniens Nationaltrainer nach der EM 2016 vor der Brust hatte: Er soll ein etwas eingerostet erscheinendes Kollektiv wieder auf Vordermann bringen, hier und da neue Impulse setzen, die Routiniers wie Sergio Ramos, Luka Modrić und Toni Kroos mit der aufstrebenden Generation um Marco Asensio, Daniel Ceballos und Marcos Llorente zusammenführen und eine neue „goldene Generation“ heranzüchten.
Verstärktes Positionsspiel, mehr Automatismen
Wie das „neue Real“ unter Lopetegui zukünftig aussehen könnte, darüber gab das erste Testspiel gegen Manchester United (1:2) bereits erste Ausblicke. Auffällig war dabei vor allem das deutlich stärker ausgeprägte Positionsspiel. Anders als unter Zidane, wo der Ball oftmals in ungefährlichen Räumen hin- und hergespielt wurde und die offensiven Kreativräume bisweilen sogar komplett unbesetzt blieben, war gegen United insbesondere in Halbzeit zwei das deutliche Bemühen zu erkennen, immer wieder in die Halbräume zwischen Viererkette und Mittelfeld vorzustoßen und aus diesen durch Pässe in die Tiefe auf die einlaufenden Außen oder Stürmer für Gefahr zu sorgen.
Zudem wurde das Spielgeschehen oftmals auf eine Seite gelenkt, um anschließend durch schnelle Verlagerungen Vinícius oder Bale Raum und Zeit für Eins-gegen-Eins-Duelle zu verschaffen oder durch die schnellen Außenverteidiger – hierbei ist insbesondere Álvaro Odriozola hervorzuheben – für Überladungen auf den Flügeln zu sorgen. Probate Mittel, um insbesondere tiefstehende Gegner zu knacken und vergangene Saison vor allem in der Liga gegen vermeintlich kleine Kontrahenten kaum zu sehen und am Ende auch entscheidend für das deutliche Verpassen der Meisterschaft waren.
Der Fußballlehrer aus Asteasu ist allerdings kein Trainer, der sich auf dogmatische Spielstile versteift. Vielmehr besteht seine Philosophie darin, so viele Stile wie möglich in sein Training und das Spiel einfließen zu lassen, um auf jegliche Situationen vorbereitet zu sein. Seine Herangehensweise beschrieb er einmal mit folgenden Worten: „Ich glaube nicht an Trainer, die sich auf einen konkreten Spielstil festlegen. Ich will alles gut beherrschen. Ich will gut angreifen, gut verteidigen und will das Spiel verstehen, um den Gegner aufzuhalten. Deshalb strebe ich danach, dass die Jungs das Spiel wirklich verstehen. Man geht oft davon aus, dass die Spieler das Spiel verstehen, aber so ist das nicht. Wenn du selbst spielst, verstehst du sehr wenig. Das war bei mir genauso. Es ist nicht einfach, für verschiedene Situationen verschiedene Lösungen zu präsentieren. Der Reichtum deines Teams besteht darin, welche Lösungen deine Fußballer bieten können.“
Ein Rezept, mit dem die Königlichen unter Zidane in den vergangenen Jahren, insbesondere in den großen Spielen, sehr gut gefahren sind. Lopetegui wird versuchen, diese Vielseitigkeit durch die zuvor beschriebenen Automatismen mittels verstärktem Positionsspiel weiter zu verfeinern.
Variable Systeme, der Spieler im Mittelpunkt
Gleichzeitig wird der Baske aber auch daran arbeiten, diese Vielseitigkeit durch das Einüben verschiedener variabler Systeme, in der die unterschiedlichen Stärken der einzelnen Spieler besser zu Geltung kommen sollen, weiter auszubauen. Bereits bei der Nationalmannschaft wie auch bei Porto, war er dafür bekannt, seine Teams hervorragend auf den Gegner einzustellen und immer wieder die Systeme zu variieren. Der Kader der Blancos bietet dafür selbstredend die besten Möglichkeiten.
Für Lopetegui steht nämlich unumstößlich fest: Am Ende bestimmen die Spieler und deren Charakteristika deinen Spielstil. Auch deshalb will er sich weder auf einen bestimmten Spielstil noch ein fixes System festlegen, wenngleich das 4-3-3 als seine favorisierte Formation gilt. Schließlich geht es darum, eine Mannschaft so zusammen- und aufzustellen, dass jeder Akteur seine individuell bestmögliche Leistung auf den Platz bringen kann, um so dem Team zu helfen.
Llorente und Ceballos profitieren bereits
Erste „Nutznießer“ – sofern ein solches Urteil nach dem ersten Vorbereitungsspiel zulässig ist – scheinen in Person von Marcos Llorente und Daniel Ceballos bereits gefunden. Während Ersterer endlich einmal als „single pivote“, als alleiniger Sechser, vor der Abwehr über einen längeren Zeitraum ran durfte, und zumindest andeutete, dass er Casemiro auf dieser Position durchaus einen würdigen Konkurrenzkampf liefern kann, machte auch Ceballos mit einem couragierten Auftritt als Ballverteiler deutlich, dass er sich als wertvolle Alternative im Mittelfeld etablieren will. Bereits erste Schritte Richtung der angestrebten Zusammenführung der Generationen?
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Wie viel Geduld hat der Madridismo mit dem Projekt Lopetegui?
Eine Frage, die sich natürlich erst im Laufe der Saison beantworten lässt. Genauso wie viele andere Fragezeichen auch, beispielsweise die weiterhin bestehende Mittelstürmer-Problematik. In erster Linie aber wird entscheidend sein, wie viel Geduld der Madridismo für das Projekt mit Lopetegui an der Spitze mitbringt. Der eingeschlagene Weg ist Chance und Risiko zugleich, kann auch enorme Rückschläge beinhalten. Mit den Abgängen von Zidane und Ronaldo hat Real Madrid einen empfindlichen Aderlass hinnehmen müssen, auf einen Schlag zwei Klub-Legenden verloren. Mit Lopetegui holten Florentino Pérez und José Ángel Sánchez einen äußerst interessanten Mann ins Boot, der die perfekten Voraussetzungen mitbringt, um die hoffentlich nächste große Ära im Verein einzuleiten und die Weichen für eine mittelfristig erfolgreiche Zukunft zu stellen.
„Zizou“ hat seinem Trainerkollegen ein außergewöhnliches Fundament hinterlassen, nun ist es an Lopetegui, dieses entsprechend auszubauen und zu veredeln. Und so wie man den Basken kennt, wird er dies akribisch, kontinuierlich und sanft erledigen, statt mit der Abrissbirne anzurücken.
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