
Hacke Gottes > Kälte
MÜNCHEN. Um ehrlich zu sein, spielte ich kurz mit dem Gedanken, nach Hause zu fahren. Nachdem ich bereits acht alles andere als stressfreie Stunden in der Redaktion meines Hauptarbeitgebers SPORT1 hinter mir hatte und Kollege Yannick Frei mir absagte, wäre ich am liebsten ins Warme. Aber dann dachte ich mir: „Das kann ich jetzt nicht bringen. Er kommt!“ Wer? Na, José María Gutiérrez Hernández. Guti. Eines meiner großen Kindheitsidole. Ein ehemaliger Galaktischer. Die Hacke Gottes. Also kratzte ich die gefühlt ein Meter dicke Eisschicht von den Scheiben meines Autos herunter und und nahm dem eisigen Wind zum Trotz den Weg durch den Münchner Feierabendverkehr nach Oberschleißheim auf mich. Dort, etwa drei Kilometer westlich von der Allianz Arena, steht der „FC Bayern Campus“. Das im vergangenen August eingeweihte Nachwuchsleistungszentrum des deutschen Rekordmeisters machte sofort einen einladenden Eindruck auf mich. Vielleicht auch deshalb, weil es mit seinen 30 Hektar in etwa vier Mal kleiner ist als das von Real Madrid. Aber in erster Linie wegen seines freundlichen Personals. Die beiden Pförtner begrüßten mich lächelnd und mit einem typisch bayrischen „Servus“, während der Herr, der mir meine Presse-Akkreditierung überreichte, meine durch den Stau und die Kälte zugegebenermaßen gedämpfte Stimmung mit nur wenigen Worten aufheiterte. „Real Madrid…“, sagte er zu mir, „…also da würde ich ziemlich gerne mitspielen! Ein super Gegner. So viel Trubel hatten wir hier noch nicht. Viel Spaß!“ Und beim Verlassen der Pressestelle dachte ich mir: „Der hat sowas von recht!“ Oh ja. Und wie. Denn allein der nur zweiminütige Weg in die „Spielstätte“ – so heißt das kleine Stadion auf dem Gelände – bot mir eine Menge Unterhaltung.
Geballte Fußball-Prominenz
Erst sah ich Bayerns Nachwuchsguru Hermann Gerland und den Co-Trainer von Profi-Coach Jupp Heynckes, Peter Hermann, mit ein paar Kindern herumscherzen. Und dann liefen noch Sandro Wagner – mit einer großen Bommelmütze – und Joshua Kimmich an mir vorbei. Spätestens jetzt war mir klar: „Hier könnte es heute etwas prominenter werden.“ Doch das sollte nur der Anfang sein. Als ich schließlich meinen Platz auf der kleinen Pressetribüne einnahm, sah ich ihn. Etwa 15 Meter unterhalb von mir saß Guti, gedankenversunken, auf der Ersatzbank der Gäste. Seine Jungs wärmten sich auf. Der 41-Jährige beobachtete Gómez, Óscar, Baeza und Co. und wenn ihm etwas nicht gefiel, stand er auf, um das zu korrigieren. Allerdings war Guti im Vorfeld der Begegnung eher noch mit etwas anderem beschäftigt: Zuschauer, die ihn erkannten, wollten natürlich ein Foto mit dem Mann, der von 1995 bis 2010 15 Titel mit Real gewann. Überhaupt schien die Münchner Bevölkerung große Lust auf das Achtelfinale der Youth League zu haben. Etwa 2.500 Zuschauer finden in der „Spielstätte“ Platz, knapp 1.650 waren trotz der verkehrsbedingt eher unglücklichen Anstoßzeit (18 Uhr) dort. Sogar ein paar Jungs der „Fans RMCF“ und deren deutsch-österreichischer Sektion, die an diesem Abend fast so viel Stimmung machten wie alle anwesenden Bayern-Fans zusammen.
Jetzt. @UEFAYouthLeague #FCBRMA pic.twitter.com/vVmvRyMWaF
— Kerry Hau (@kerry_hau) 21. Februar 2018
Meine Vorfreude stieg. Erst recht, als der Gesang „Guti alé, Guti alé, Forza Guti, Guti alé“ aus der kleinen Real-Kurve ertönte. Ganz kurz fühlte ich mich an die guten alten Zeiten erinnert. An den dramatischen Titelgewinn 2007 und den grandiosen 2008, bei denen das verrückte Genie mit dem linken Zauberfuß mit seinen Vorlagen eine Hauptrolle einnahm. Aber dann wurde ich plötzlich aus dem Bernabéu zurück nach Oberschleißheim geholt. Denn es wurde noch königlicher!
Ein Mann mit dunkelbraunem Haar und sympathischem Lächeln nahm keine fünf Meter unterhalb von mir Platz. Es war Raúl Gonzalez Blanco. „Oh man“, dachte ich mir, „das wird ja immer besser! Fünf Meter entfernt sitzt Raúl, 15 Meter entfernt steht Guti.“ Was hätte ich mich geärgert, wenn ich nach Hause gefahren wäre.
Okay, das ist königlich. Señor Raúl ist hier. @UEFAYouthLeague @SPORT1 @REAL_TOTAL #RMAFCB pic.twitter.com/ciXz7aOO3w
— Kerry Hau (@kerry_hau) 21. Februar 2018
Mit Herzblut an der Seitenlinie
Ach ja, Fußball gespielt wurde übrigens auch noch. Reals U19 erwischte den besseren Start und ging durch Miguel Baeza in Führung. Miguel wer? Ganz ehrlich: Ich schaue mir kaum noch Spiele von Reals Nachwuchsmannschaften an. Die Arbeit lässt es einfach nicht zu. Aber ich hatte Spaß an dem, was die Spieler in Weiß mir so boten. Lediglich die Namen Dani Gómez, Óscar Rodríguez und Moha Ramos waren mir geläufig, weil sie im vergangen Sommer bereits in die erste Mannschaft hinein geschnuppert hatten. Vor allem Gómez, der „Hai von Alcorcón“, imponierte mir. Körperlich robust, technisch stark – so muss ein moderner Stürmer auftreten. Nur Guti machte einen weniger zufriedenen Eindruck. Er kommentierte jede Aktion. Zwar fiel auch für jede gute ein „Bien“, oftmals gab er jedoch lautstarke Anweisungen, weil ihm etwas nicht passte. Im Spiel gegen den Ball hörte ich oft das Wort „Equipo“. Mannschaft. Damit forderte er seine Spieler auf, kompakter zu stehen. Alle mussten verteidigten, auch Stoßstürmer Gómez. Nicht selten rief Guti „Falta“, um seinen Spieler klar zu machen, ein taktisches Foul zu begehen, um sich wieder neu zu sortieren. Als die Hausherren durch ein sehenswertes Freistoßtor von Derrick Köhn in Minute 21 ausglichen, regte sich der 41-Jährige tierisch auf und diskutierte wie von der Tarantel gestochen mit seinen Assistenten. Gleiches geschah wenige Minuten später, da scheiterte Castilla-Aushilfe Óscar per Elfmeter an Bayerns Torwart-Juwel Christian Früchtl.
Diese Emotionen kannte ich schon von dem Spieler Guti. Aber so verbissen wie an diesem Abend war er zumindest in seinen ganz jungen Jahren als Real-Profi sicherlich nicht. Kurz vor der Pause durfte der Coach dann wieder jubeln, weil Rechtsverteidiger Sergio López das 2:1 für die Gäste erzielte. Trotz dieses unterhaltsamen ersten Durchgangs freute ich mich über den Halbzeitpfiff. Es war erstens viel zu kalt. Und zweitens war ich ja nicht nur zum Spaß dort. Also ging ich schnurstracks in die Lounge des Stadions überhalb der Katakomben, zu der neben der anwesenden Prominenz auch die Medienvertreter Zutritt hatten. Uli Hoeneß und Hasan Salihamidži? beim Kaffeetrinken. Plötzlich stieß Raúl dazu und unterhielt sich auf Englisch mit dem Präsidenten und dem Sportdirektor der Bayern. Dann schrie ein Mitarbeiter der Blancos aus heiterem Himmel „Goool“ – Lucas Vázquez hatte beim parallel laufenden Spiel der ersten Mannschaft bei CD Leganés (3:1) das zwischenzeitliche 1:1 erzielt. Ich lächelte. Und fragte mich zugleich: „Was mache ich jetzt eigentlich hier?“
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Soll ich Raúl jetzt schon ansprechen?
Mein Ziel an diesem Abend war nämlich, zwei Interviews zu führen. Eines mit Guti und, wenn er schon da war, eines mit „el Siete“. Kurzer Hinweis: Sollte jemand von Euch, liebe Leser, einmal Sportjournalist werden wollen, dann merkt Euch – es bringt nichts, ein Interview zu führen, ohne sich vorher zu vergewissern, ob das für alle Beteiligten überhaupt in Ordnung ist. Seid mutig, aber stürzt Euch nicht auf die Stars. Habt Geduld! Wer einen nervigen oder unhöflichen Eindruck macht, kann sich heutzutage schnell viele Wege verbauen. Daher nahm ich es in Kauf, bis zum Ende der Halbzeit tatenlos auf den Pressesprecher von Reals U19 zu warten. Es sollte sich lohnen. Auch wenn er mir nur ein Interview mit Guti nach Spielende in Aussicht stellte. Ein Foto und ein kurzes Gespräch mit Raúl seien zwar in Ordnung, aber der einstige Kapitän dürfe als Berater von Präsident Florentino Pérez ausländischen Medien keine exklusiven Interviews geben, erklärte er mir. Ich willigte ein. Ganz so schlecht hörte sich das schließlich auch nicht an.
Die Warterei kostete mich dafür zehn Minuten des zweiten Durchgangs. Ich verpasste demnach den Platzverweis von Adrián de la Fuente kurz nach Wiederanpfiff und auch den 2:2-Ausgleichstreffer durch Bayerns Adrian Fein. „Mist“, dachte ich mir, „am Ende scheidet Real noch aus und du bekommst gar kein Interview.“ Denn wer gibt schon gerne Interviews, wenn er verliert? Viele Spieler und zum Teil auch Trainer haben nämlich keine Lust, im Moment der Niederlage zu sprechen und negative Fragen zu beantworten. Als SPORT1-Redakteur weiß man das. Zu allem Überfluss kam noch diese unsägliche Kälte hinzu. Minustemperaturen in Oberschleißheim und meine Handschuhe lagen im Auto. Aber ich hielt durch. Genauso wie Guti und seine Jungs.

Ein ehrliches Gespräch
In dieser zweiten Halbzeit war zu sehen, warum Bayerns Jugendarbeit noch lange nicht ihren Ansprüchen gerecht wird. Selbst in Unterzahl dominierte Madrid das Spielgeschehen. Alberto Fernández belohnte den hohen Aufwand in der 74. Minute nach sensationellem Zuspiel durch Martín Calderón. Guti und sein Team jubelten ausgelassen. Doch es war noch eine Viertelstunde zu spielen. Wieder hatte ich Zweifel an einem Interview mit dem Trainer, weil nach so vielen Rufen am Ende nur noch ein Krächzen aus seinem Munde zu vernehmen war. „Der will nach diesem frostigen Abend bestimmt nur noch weg“, dachte ich mir. Von wegen! Real brachte die Führung souverän über die Zeit und Guti sprang wie ein kleiner Junge mit geballten Fäusten zu seinen Spielern, um sie für den Viertelfinal-Einzug zu beglückwünschen. Danach gesellte er sich sogar noch für ein Foto und ein Dankeschön zu den angereisten Madridistas. Er genoss den Moment des Erfolgs. Und er nahm sich tatsächlich noch Zeit für mich.
@GUTY14HAZ con nuestros #PrimaveraFANS de @fansrmcfgeraut en Múnich. ¡GRANDES! #YouthLeague #HalaMadridYNadaMás #FansRMCF pic.twitter.com/vmvYZONfg1
— Primavera Blanca (@primavera_rm) 21. Februar 2018
Fünf Minuten durfte ich ihm in den Katakomben Fragen stellen. Er hätte wahrscheinlich auch noch fünf weitere Minuten mit mir gesprochen, wenn der hinter ihm stehende Pressesprecher nicht wie ein Bodyguard mit den Hufen gescharrt hätte. Aber sei’s drum. Heraus kam dabei trotzdem ein schönes Interview, in dem er mir sehr bodenständige, aber auch ehrliche Antworten gab. Ausgerechnet er, der in seiner aktiven Karriere gerne nachts um die Madrider Häuser zog. Manchmal sogar zu gerne, sonst hätte er jedes Spiel 90 Minuten auf dem Platz gestanden. Hätte sich vielleicht sogar Hoffnungen auf den Weltfußballer-Titel machen können. Egal. Als Trainer ist Guti ein absoluter Vollprofi. Das kann ich spätestens nach diesem Abend behaupten. Warum er all das macht anstatt seinen Ruhestand zu genießen und als Botschafter für den Klub locker herumzureisen? Weil er den Fußball liebt. Und weil er Real Madrid liebt. Deshalb versicherte er mir in unserem kurzen Gespräch auch, dass Zinédine Zidane weiterhin der richtige Mann sei. Und der Klub sogar im Falle einer titellosen Saison an dem Franzosen festhalten könne.
Der perfekte Abschluss
Diese Worte waren so deutlich und überzeugend, dass ich ihnen nur Glauben schenken konnte. Dann nickten wir uns kurz an, ich sagte „Muchas gracias“, er „De nada“ und wir schüttelten uns die Hände. Zum Abschluss schoss ich noch ein Erinnerungsfoto mit ihm. Eigentlich ist es unter Journalisten in Deutschland verpönt, das zu tun. Viele halten das nicht für professionell. Aber muss mich die Meinung anderer dazu interessieren? Nein. Im Kern bin auch ich nur ein Fußballbesessener, der dankbar ist, solche Legenden zu treffen. Guti war ein ganz großer Kicker und hat das Zeug, eines Tages auch anstelle von Zidane an der Seitenlinie des Bernabéu zu stehen. Und deshalb war ein gemeinsames Foto ein Muss. Gleiches galt für den „Caballero“, der fünf Minuten später aus dem Kabinentrakt trat, um sich in den bereitstehenden Mannschaftsbus zu setzen. Raúl. Er lächelte mich an, gab mir die Hand und fragte mich, wie es mir gehe. Das hätte ich mir nie erträumt, als ich Anfang 2001 zum ersten Mal im Bernabéu war und mir meine Eltern sein Trikot schenkten. Und allein aus diesem Grund lohnte es sich schon für mich, meinen Feierabend in der Eistruhe am „FC Bayern Campus“ zu verbringen.
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