
Guter Start – mit Luft nach oben
Resümiert man die bisherigen Auftritte der Königlichen, klingen die nackten Fakten auf den ersten Blick vielversprechend: Zehn Punkte bei 6:2 Toren – das bedeutet für den Meister nach fünf Spieltagen (Real absolvierte aufgrund der längeren Champions-League-Saison erst vier Partien, der FC Barcelona und Atlético Madrid bestritten sogar erst drei Spiele) Tabellenplatz eins. Auf dem Papier nimmt die „Mission Titelverteidigung“ also schon deutlich Fahrt auf.
Spielerisch waren die Leistungen der Hauptstädter bislang aber noch längst nicht immer auf dem Niveau, das die traditionell kritische Öffentlichkeit von ihren Schützlingen erwartet. Bei der Analyse der ersten 360 LaLiga-Minuten hat REAL TOTAL vier Aspekte genauer unter die Lupe genommen, um die bisherige Performance der Zidane-Elf einzuordnen:
- die physische Komponente
- die Frage nach taktischer Variabilität
- daran geknüpfte Lösungsmöglichkeiten im letzten Drittel
- und die Rolle des Martin Ødegaard
Fehlende Spritzigkeit gleich fehlende Aggressivität?
Während der ersten Wochen der noch jungen Saison wirkten die Blancos in vielen Situationen nicht so spritzig, wie es ein Team im Wettkampfbetrieb sein sollte. Die Gründe hierfür liegen natürlich auf der Hand: Die auf verhältnismäßig wenige Wochen und Einheiten zusammengestauchte Vorbereitung dürfte schlichtweg nicht gereicht haben, um jeden einzelnen Spieler auf ein optimales physisches Niveau zu hieven. Zudem genügte die kurze Sommerpause vermutlich nicht, um nach der fast schon irrwitzigen Belastung von elf LaLiga-Spielen binnen sechs Wochen ausreichend zu regenerieren. Auch viele andere Erstligisten wirken noch nicht spritzig genug.
Folgerichtig mangelte es dem Meister in vielen Phasen an der nötigen Aggressivität bei gegnerischem Ballbesitz. Sinnbildlich hierfür ist zum Beispiel die Szene, die sich kurz nach Wiederbeginn im ersten Saisonspiel bei Real Sociedad ereignete: Hier landete der Ball etwas glücklich bei Andoni Gorosabel, der sich anschließend in einer eher zufällig zuschnappenden Pressingfalle zwischen Toni Kroos, Vinícius Júnior und dem rückwärtig doppelnden Karim Benzema befand. In dieser Situation reichte eine Drehung, um gleich drei Madrilenen aus dem Spiel zu nehmen. Anschließend ging „La Real“ aus einer Vier-gegen-Acht-Situation in doppelter Unterzahl beinahe sogar in Führung. Verteidigt Real hier konsequenter, entsteht hier keine Abschlusssituation.

Ein weiteres Beispiel für mangelnde Aggressivität ereignete sich im selben Spiel kurz vor Ende der Partie: Hier erhielt der eingewechselte Adnan Januzaj die Kugel am rechten Flügel. Da Sergio Ramos sich entschied im Rücken von Ferland Mendy (mit einer subjektiv etwas geringen Tiefenstaffelung) abzusichern und zudem gemeinsam mit Casemiro ein Zuspiel ins Zentrum zu verhindern, sah sich Mendy einer Eins-gegen-Eins-Situation gegenüber. Etwa zehn Meter entfernt machte Vinícius Júnior keinerlei Anstalten, rückwärtig zu doppeln und somit zum einen Mendy zu unterstützen und zum anderen aktiv auf Ballgewinn zu gehen.

Zugegebenermaßen wird im Profibereich nicht selten Eins-gegen-Eins am Flügel verteidigt – mit entsprechender Staffelung des ballnahen und ballfernen Innenverteidigers sowie des ballfernen Außenverteidigers – ein Doppeln schien hier aber einfach umzusetzen. Zudem gelangte der Ball scheinbar mühelos an Casemiro und Ramos vorbei ins Zentrum, wo David Silva einen unter dem Strich zu einfachen, freien Abschluss erhielt, den der aufmerksame Raphaël Varane gerade noch blocken konnte. Eine Szene, die absolut dafür spricht, dass den Blancos die letzten Prozentpunkte in Sachen Physis derzeit noch fehlen.
Alles eine Frage des Systems?
Eines haben die ersten vier Liga-Partien jedoch bereits unter Beweis: „Zizou“ scheint bereit, neue Wege zu beschreiten und mitunter sogar von seinem präferierten 4-3-3-System abzurücken. So geschehen etwa in der zweiten Partie, als der Franzose gegen Betis (3:2) auf ein 4-4-2-System setzte, das im Mittelfeld über weite Strecken der Anordnung einer Raute glich: 4-1-2-1-2.
Im Aufbau war interessant zu beobachten, dass Casemiro oftmals in einen dynamischen Dreieraufbau abkippte, die Außenverteidiger hochschoben und Valverde und Kroos die Halbpositionen besetzten. Auf diese Weise war die Dreiecksbildung verhältnismäßig einfach, sodass die Blancos das Leder mit einer hohen Passqualität nach vorne tragen konnten.

Wirklich interessant war in diesem System, welches auch gegen Valladolid (1:0) Anwendung fand, dass mit Luka Jović neben Benzema ein zweiter Vollblutstürmer das Vertrauen bekam. Das erlaubte Benzema immer wieder auf die Flügel (so beim Assist zum 1:0) oder in die Halbräume (so beim 2:0) auszuweichen und Angriffe entscheidend mitzugestalten, ohne dass ein zentraler Anspielpunkt gefehlt hätte.

Dass Zidane gegen Levante wieder im 4-3-3 startete, unterstreicht, wie wichtig dem Meistertrainer taktische Variabilität zu sein scheint. Hinsichtlich der Systemfrage haben die ersten vier Spieltage schon aufgezeigt, dass ein mehrdimensionaler Ansatz vermutlich der Schlüssel für eine erfolgreiche Saison sein könnte. Denn während gegen Betis im 4-4-2 mit Raute (oder auch 4-3-1-2) einige gute Angriffe gefahren wurden, war gegen Valladolid die Einwechslung von Vinícius Júnior und die damit verbundene Umstellung auf das 4-3-3-System vermutlich der siegbringende Faktor. Kurzum: Mehr als ein System zu beherrschen und im Verlaufe der Saison zu etablieren, könnte in der heißen Phase der Spielzeit Gold wert sein.

Spiel im letzten Drittel
Das Spiel gegen Levante (2:0) hat dann in vielen Phasen aber aufgezeigt, wie Real im letzten Drittel zu Lösungen kommen kann: Einerseits hatten die Blancos einige gute Pressingmomente, andererseits haben sie die Positionen immer wieder rochierend besetzt, sodass die Gastgeber in diesen Momenten kaum Zugriff erhielten. Besonders bemerkenswert waren hier einerseits die Stabilität des Ballbesitzes und die Tatsache, dass – wenn die Blancos schnell gespielt haben und eine gute Ballbewegung mit gezielten Tiefenlaufwegen kombiniert haben – meist kein Levante-Akteur in der Lage war, die Angriffe zu verteidigen.

Außerdem lassen alle bisherigen Saisonspiele den Rückschluss zu, dass Real immer dann Gefahr ausstrahlt, wenn sie entweder nach Ballgewinn schnell umgeschalten oder den Gegner in stabilen Ballbesitzphasen mit gezielten Tempowechseln in Unordnung bringen. Im 4-3-3-System war dabei vor allem das aktive Einschalten der Außenverteidiger ein probates Mittel – sowohl Carvajal und Mendy als auch Odriozola und Marcelo sind in der Lage, durch Überlaufen oder gute erste Kontakte in die Tiefe plötzliche Überzahl oder vielversprechende Gleichzahlsituationen zu schaffen.
Im Spiel mit zwei Spitzen hat Benzema durch intelligente Laufwege immer wieder neue Spielsituationen geschaffen – mal als Überzahlspieler in den Halbräumen, mal als gefährlicher Außenspieler – aus denen nicht selten Torgefahr resultierte. Die dadurch entstandenen Räume wurden dann von anderen Spielern zumeist mit Tempo besetzt.
Martin Ødegaard – das fehlende Puzzlestück?
Dass zudem auch Martin Ødegaard für das Spiel im letzten Drittel zur Bereicherung werden kann, hat er im Rahmen seines ersten Einsatzes für die Königlichen bereits angekündigt. Seine technische Beschlagenheit, die Fähigkeit, mit wenigen Kontakten auszukommen und sich zudem geschickt zwischen den Linien zu bewegen und immer wieder Räume im Rücken des Gegners zu erkennen und diese mit einem präzisen Passspiel zu attackieren, beschreiben das Potenzial des 21-jährigen Norwegers.

Sinnbildlich für die Fähigkeiten des Hoffnungsträgers war eine Szene in der 14. Spielminute der Auftaktpartie: Zunächst landete der von Mendy getriebene Ball bei Benzema. Bereits bevor der Mittelstürmer den Ball nach vorne mitnehmen konnte, ging Ødegaard tief. Zwischen den Linien bot sich der Norweger anschließend mit dem Rücken zum Tor so an, dass er den Ball perfekt für Benzema ablegen konnte. Auch wenn es sich hierbei nur um eine Momentaufnahme handelt, so scheint ein Ødegaard als ballsichere Anspielstation zwischen den Linien eine gute Option, um Reals Offensivspiel anzukurbeln. Essentiell ist hier aber auch, dass weitere Spieler Tiefenlaufwege anbieten – hier: Mendy -, um den gegnerischen Abwehrverbund zu Entscheidungen zu zwingen.
Fazit: Die Basis stimmt, aber…
Resümiert man die Erkenntnisse der ersten vier Partien und gleicht die subjektiven Eindrücke mit dem faktischen Tabellenstand ab, besteht jede Menge Grund zu Optimismus. Während andere Vereine abermals viele Millionen Euro investiert haben, geht Real Madrid ohne teuren Neuzugang in die erste komplette “Corona-Saison”. Und das mit einem guten Gefühl: Natürlich fehlt Zidanes Schützlingen nach kurzer Saisonvorbereitung mit nur einem Trainingsspiel gegen Getafe noch die nötige Frische und Spritzigkeit, um über 90 Minuten eine (laufintensive) Spielidee konsequent umsetzen zu können. Gerade in einer solch frühen Phase der Saison spielt die Trainingssteuerung und -dosierung daher eine umso größere Rolle. Gelingt es den Blancos dennoch, möglichst viele Punkte zu sammeln und allmählich das Level in allen wesentlichen Bereichen – Physis, Zusammenspiel, taktische Lösungen und mentale Aspekte – anzuheben, könnte das den Grundstein für eine erfolgreiche Saison bilden.
Wichtig ist zudem, dass die Königlichen nicht nur einen klaren Plan A, sondern eben auch einen Plan B oder C in der Tasche haben. Gerade in dieser Hinsicht könnte sich die Implementierung eines Alternativsystems als kluger Schritt erweisen. Und dann ist da noch die Hoffnung auf mehr Unterschiedsspieler und Scoring-Optionen: Ødegaards Verpflichtung und Vinícius’ bisherige Auftritte sind nur zwei Beispiele berechtigter Hoffnung, dass die Blancos noch schwieriger auszurechnen und darüber hinaus neben Benzema und Ramos weitere klare Scoring-Optionen etabliert werden könnten.
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