
Von Botafogo in den Fußball-Olymp
Als Marcelo im Januar 2007 in Madrid aufschlug – damals noch schmächtig, äußerst introvertiert und ohne seine inzwischen längst zum Markenzeichen mutierten, charismatischen Locken – galt der zu diesem Zeitpunkt 18-jährige Brasilianer in einer für die stolzen Königlichen finanziell und sportlich schwierigen Phase als ein Versprechen einer erfolgreichen Zukunft. Dass Marcelo, der in Botafogo, einem Stadtteil der Mega-Stadt Rio de Janeiro, aufwuchs, eines Tages den Weg vom einfach daherkommenden Futsal-Court in das prestigeträchtigste und bedeutendste Stadion des Weltfußballs schaffen würde, konnte Mitte der 1990er Jahre niemand ahnen – außer sein Großvater vielleicht.
“Er hat mich immer zum Futsal gefahren in seinem alten Volkswagen Variant. Ich glaube, der war von 1969. Aber als ich begann, öfter mit meinem Team zu reisen – als ich so acht oder neun Jahre alt war – war es zu teuer für uns, den Sprit, das Mittagessen und alles zu zahlen. Also traf mein Großvater eine Entscheidung, die mein Leben veränderte”, schreibt Marcelo in seiner Lebensgeschichte “But First We Attack”, welche im September 2017 bei The Players‘ Tribute veröffentlicht wurde, über seinen größten Förderer. Demnach habe sein Großvater ihn schon immer als größten Spieler Rios und ganz Brasiliens gesehen. “Er verkaufte sein Auto und verwendete das Geld, um unsere Bus-Tickets zu bezahlen. Wer so ein Opfer bringt, da denkt ihr vielleicht, dass er sich wie ein Märtyrer gefühlt oder ‘Oh, ich Armer’ gesagt hätte – aber nein, ganz und gar nicht”, so Marcelo hinsichtlich der außergewöhnlichen Rolle seiner vielleicht wichtigsten Bezugsperson weiter.
Und sein Großvater, der kurz nach „La Décima“, dem zehnten Europapokalsieg und somit einem der größten Meilensteine der rumhreichen Vereinsgeschichte der Blancos, in Rio verstarb, sollte Recht behalten: Heute – etwa zwei Jahrzehnte später – hat Marcelo zumindest auf Club-Ebene alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt: Vier Champions-League-Titel, vier Mal die FIFA Club-Weltmeisterschaft, drei UEFA-Supercups, vier spanische Meisterschaften, zwei Mal die Copa del Rey sowie vier spanische Supercopas – das fußballerische Vermächtnis des Brasilianers könnte kaum beeindruckender sein.
Von Carlos inspiriert – von Mendy verdrängt?
Dass Marcelo mit 95 Torvorlagen und 37 eigenen Treffern in 504 Partien für die Königlichen (Stand: 3. März 2020) zudem ähnlich beeindruckende Zahlen wie sein Idol, Vereinsikone Roberto Carlos (69 Tore und 88 Torvorlagen in 527 Spielen), aufgelegt hat, unterstreicht sein außergewönliches Talent genauso wie die zahlreichen errungenen Titel. Bezüglich der Bedeutung, das königliche Wappen auf der Brust zu tragen und der besonderen Beziehung zu seinem Vorbild Roberto Carlos, schreibt Marcelo in “But First We Attack” zudem: “Der Grund, warum all das so unwahr für mich wirkte, war, dass Roberto Carlos mein Idol war. Für mich war er Gott. In das gleiche Team wie Roberto zu kommen, auf seiner Position, ich konnte es nicht glauben.”
Und doch steht der Linksverteidiger, der das temporeiche und leichtfüßige Spiel wie kaum ein anderer Außenverteidiger verkörpert, immer wieder in der Kritik: Er sei zu offensiv, würde der Mannschaft die nötige Balance zwischen Offensive und Defensive nehmen und habe die besten Tage seiner fußballerischen Laufbahn vielleicht schon hinter sich. “Das tut mir natürlich weh, denn das ist ein Spieler, der alles auf dem Platz gibt“, betonte Real-Coach Zinédine Zidane zuletzt. Während Marcelo in der Vorsaison insbesondere unter Santiago Solari abgeschrieben schien und kaum zum Zug kam, haben den wie wachgeküsst wirkenden “Zauberfuß” in dieser Spielzeit in erster Linie Verletzungen im Nacken und an der Wade daran gehindert, auf mehr als lediglich 17 Einsätze (13 davon über 90 Minuten) zu kommen.
Dass der Vize-Kapitän somit in der Saison 2019/20 abermals keine Schlüsselrolle zu spielen scheint, liegt aber neben unglücklicher Umstände auch an einer anderen Personalie: Ferland Mendy. Der 24-jährige Franzose mit senegalesischen Wurzeln wechselte vor Saisonbeginn für rund 50 Millionen Euro von Olympique Lyon in die spanische Hauptstadt und hat Marcelo im Laufe der Spielzeit vor allem gegen “große Gegner” oftmals den Rang abgelaufen. So gilt Mendy als defensivstärker und taktisch disziplinierter und erhielt zuletzt etwa im Stadtderby gegen Atlético (1:0) oder im Champions-League-Achtelfinale gegen Manchester City (1:2) den Vorzug. Im Clásico am Sonntagabend (2:0) tauchte Marcelo dann allerdings zur Überraschung vieler Beobachter der Königlichen wieder in der Startformation auf und deutete dabei trotz einiger suboptimaler Entscheidungen mit beherzten Tiefenläufen und leidenschaftlicher Zweikampfführung seinen immer noch vorhandenen sportlichen Mehrwert für die Blancos an.
Bedingungsloser Einsatz, Ehrfurcht und Loyalität
Trotz all der Enttäuschungen der vergangenen Monate – bedingt durch hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibenden Leistungen, die Ausbootung in der Solari-Amtszeit sowie die mitunter überkritische Berichterstattung – hat das “breiteste Grinsen der Concha Espina” stets sein letztes Hemd für die Könglichen gegeben. Beispielhaft für den Menschen Marcelo ist dabei sicher das Champions-League-Finale 2014 gegen Atlético, als der Linksverteidiger der Enttäuschung der Nicht-Berücksichtigung in der Startelf zum Trotz nach seiner Einwechslung in der 59. Spielminute ein wichtger Faktor dafür war, dass die damals von Carlo Ancelotti gecoachten Blancos die Partie noch drehten und nach 120 verrückten Minuten “La Décima” feiern konnten. In dieser denkwürdigen Nacht von Lissabon kurbelte der Fanliebling nicht nur das Offensivspiel durch temporeiche Vorstöße und mutige Tiefenpässe an, sondern erzielte in der 118. Spielminute sogar selbst den 3:1-Treffer und führte somit die Entscheidung herbei.
Und genau das zeichnet diesen “verrückten, angreifenden Verteidiger”, wie er sich selbst bezeichnet, aus: Er murrt selten, tut alles für den Erfolg der Mannschaft und freut sich mit seinen Kollegen, auch wenn er selbst einmal außen vor bleibt. Die Liebe zum Club und zum Madridismo ist dem Brasilianer ohne Zweifel in Fleisch und Blut übergegangen. “Jeden Tag, wenn ich zum Training komme und mein Auto parke und in die Real Madrid-Umkleidekabine gehe, ist es ein Riesengefühl. Auch wenn ich es nicht zeige, tief in mir fühle ich es so sehr. Ich bin noch voller Ehrfurcht, jeden Tag. Ein Teil des Vermächtnisses dieses Klubs zu sein, ist für mich unbezahlbar”, schreibt der heute 31-Jährige in seiner Lebensgeschichte.
Karriereende in Madrid oder Neustart bei einem anderen Club?
Dass Marcelo vor allem im Spiel nach vorne noch immer jeder Mannschaft der Welt helfen kann, stellt der 58-fache Nationalspieler immer wieder unter Beweis. Zuletzt bereitete er etwa Toni Kroos’ Treffer zum zwischenzeitlichen 1:1 gegen Celta Vigo mustergültig vor, als er Karim Benzema am linken Flügel zielstrebig überlief und das Leder anschließend punktgenau in den Rückraum legte. Und auch gegen Barça bereicherte der Dauerbrenner auf Reals linker Außenbahn das Offensivspiel insbesondere in Durchgang zwei sichtbar. Dennoch kursieren immer wieder Gerüchte, der Vize-Kapitän könnte sich Juventus Turin oder Paris Saint-Germain anschließen. In Turin würde er auf seinen langjährigen Weggefährten und Freund Cristiano Ronaldo treffen, in Paris käme es zum Wiedersehen mit Ángel Di María. Für Juventus würde neben der sportlichen Herausforderung und dem enormen Potenzial des italienischen Rekordmeisters auch die gute Freundschaft mit Ronaldo sprechen. Dieser sagte etwa im vergangenen Sommer gegenüber der MARCA über Marcelo: “Er ist ein sehr lebhafter Mensch, den ich sehr vermisse.” Ob das für einen Transfer reicht, bleibt abzuwarten.
Doch auch die Blancos wollen den Fanliebling – Vertrag bis 2022 – offenbar nicht einfach ziehen lassen. So hob Zidane nach dem Pokal-Aus gegen Real Sociedad, bei dem Marcelo keinen guten Tag erwischte, die enorme Bedeutung des Brasilianers hervor: “Er kann wieder in Form kommen, er macht auf mich einen guten Eindruck. Marcelo ist ein wichtiger Spieler, das hat er immer gezeigt und das wird er bis zum Ende immer zeigen. Ich werde auf ihn zählen und habe keine Zweifel.” Dass “Zizou” seinen Worten mit dem Startelf-Einsatz im Clásico Taten folgen lassen hat, könnte ein Fingerzeig für einen Marcelo-Verbleib sein.
Für den Madridismo, das scheint außer Frage, wäre ein Abgang des Ausnahme-Linksverteidigers in jedem Fall ein herber Verlust. Mit dem “angreifenden, verrückten Brasilianer” würden die Blancos die von ihm so wie von wenigen anderen Profis verkörperte Freude am Fußball, die Liebe zum Klub und das breite Dauergrinsen verlieren – auch wenn sein Platz im Herzen eines jeden Madridistas so oder so auf ewig reserviert scheint.
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