
Saga als Segen
Das ewige Tauziehen um Kyilan Mbappé ist endlich zu Ende und im Madridismo herrscht eine Mischung aus Euphorie und Skepsis. Letzteres weniger aus sportlichen Gründen, denn niemand wird ernsthaft an den Qualitäten des Neuzugangs zweifeln – die ganze Wechselsaga an sich ist es, die bei vielen Real-Fans immer noch für gemischte Gefühle sorgt. Vor allem die dramatische Entwicklung vor gut zwei Jahren, als Mbappé trotz einer Zusage an Real Madrid im letzten Moment doch noch bei Paris Saint-Germain verlängerte, hat tiefe Kratzer bei der Anhängerschaft der Königlichen hinterlassen. Uns bei REAL TOTAL ging und geht es schließlich nicht anders.
Doch bei genauer Betrachtung muss man fast dankbar sein, dass sich alles genauso ereignet hat, denn wäre der Franzose im Sommer 2022 oder gar noch früher an die Concha Espina gewechselt, wären viele Dinge anders verlaufen beziehungsweise Vieles wäre möglicherweise gar nicht erst passiert. Es ist zumindest fraglich, ob ein Vinícius Júnior in dem Fall solch eine kometenhafte Entwicklung hinter sich hätte, ob ein Rodrygo Goes zu einem so wichtigen Faktor geworden wäre oder die Integration von Jude Bellingham so schnell funktioniert hätte. Zugegeben, ganz viel „hätte, wäre, wenn“, doch es liegt auf der Hand, dass mit dem Superstar Mbappé im Kader Vinícius, Rodrygo, Bellingham oder auch Edeljoker Brahim Díaz nicht diese Freiheiten gehabt hätten, sich so zu entwickeln, wie sie es getan haben.
Wie aus Not Variabilität und Flexibilität wurde
So machte Carlo Ancelotti aus der Not, keinen Mittelstürmer von Weltformat zu haben, eine Tugend und funktionierte Vini im Laufe der gerade abgelaufenen Saison peu à peu vom reinen Linksaußen zu einer offensiven Universalwaffe – der 23-Jährige kann inzwischen genauso gut über die rechte Seite agieren, vor allem hat er aber in dieser Spielzeit in zentraler Position etlichen Gegnern wehtun können. Im Finale der Supercopa de España erzielte er so einen Hattrick gegen den FC Barcelona, aber auch im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gegen Manchester City agierte Reals Top-Torjäger im Sturmzentrum, während Rodrygo – normalerweise Rechtsaußen – über links kam. Diese Formation stiftete schließlich ordentlich Chaos in Pep Guardiolas Defensivordnung. „Es ist eine Option, das beizubehalten. Vinícius ist in der Hinsicht sehr bescheiden, denn er hat verstanden, dass es gut für die Mannschaft sein könnte, wenn er zentraler spielt. Er versteht es sehr gut, dass er zentral nicht so viele Kontakte braucht, um ein Tor zu erzielen. Eine schnelle Bewegung reicht, was er sehr gut kann. Bei der Entscheidung habe ich natürlich mit beiden gesprochen und beide waren einverstanden“, erklärte Reals Coach nach der Partie. Und genau auf die Art und Weise traf Vinícius im Halbfinal-Hinspiel in München zur Führung gegen den FC Bayern. Gefragt, was ihn besonders freut, erklärte Vinícius selbst: „Dass ich als Neuner spielen kann. Ich hatte mich nie als solcher gesehen, diese Saison konnte ich das oft spielen. Der Trainer hat mich überzeugt, dort zu spielen. Jetzt fühle ich mich dort wohler als außen. Er sagt mir oft, dass ich nach außen gehen soll. Dann sage ich: nein (lacht).“
Der vor allem in der Offensive seit Jahren auf Kante genähte Kader, nach Karim Benzemas Abgang praktisch ohne echten Mittelstürmer, bot Ancelotti die Möglichkeit zu improvisieren und daraus eine Stärke zu ziehen. Als Vinícius zu Beginn der Saison verletzt ausfiel, integrierte der Italiener Neuzugang Bellingham einfach als verkappte Spitze und der Engländer wurde prompt zum Torjäger, der Reals Offensive über die gesamte Hinrunde auf seinen Schultern trug. Rückkehrer Brahim wiederum entwickelte sich zu einem offensiven Freigeist in bester Isco-Manier, und selbst der 19-jährige Arda Güler bekam in der Schlussphase der Saison seine Einsätze, in denen er angesichts sechs Toren in 373 Liga-Minuten – zeigen konnte, dass er mehr als nur ein Versprechen für die Zukunft ist. Es ist zumindest sehr fraglich, ob diese Entwicklungen mit einem früheren Mbappé-Transfer so eingetreten wären.
Mbappé kommt in eine (zusammen) gewachsene Mannschaft
Das Beste daran: Diese Weiterentwicklung vieler junger Spieler von Talenten zu absoluten Leistungsträgern und Stars ging mit sportlichen Erfolgen einher. Nur in den letzten drei Jahren gewann Real Madrid zweimal die Champions League, wurde zweimal spanischer Meister, holte nebenbei auch noch die Copa del Rey, zwei Supercopas de España, die FIFA-Klub-WM, den UEFA Super Cup – alles ohne Kylian Mbappé. Der französische Weltmeister kommt außerdem nicht nur in eine hochdekorierte Gewinnertruppe, sondern – nicht minder wichtig – in eine gewachsene und gesunde Struktur, in der jeder um seinen Platz und seine Rolle weiß. Und in der es keinerlei Angst vor dem prominenten Neuzugang gibt, sondern eher selbstbewusste Vorfreude: „Er ist ein Phänomen, einer der besten Spieler der Welt. Wir wissen, dass wir gerade einen Spieler auf dieser Position brauchen“, äußerte sich Rodrygo schon vor Wochen über die etwaige Ankunft Mbappés und bezeichnete sie als „gutes Problem“ für Carlo Ancelotti. Die Social-Media-Reaktionen von Vinícius, Bellingham, Rodrygo und Co. auf die offizielle Verkündung des Transfers des Franzosen schlagen in die gleiche Kerbe – man freut sich auf den neuen Kollegen und weiß, dass man mit ihm noch stärker und unausrechenbarer wird
Die Gefahr, dass Mbappé, sei es durch sein vermeintliches Ego oder den Superstarstatus, die beinahe einmalige Chemie in der aktuellen Real-Mannschaft zerstören könnte, ist entsprechend sehr gering. Dafür würden im Falle der Fälle schon die Hüter dieses heiligen Grals wie Dani Carvajal sorgen: „Die Leute, die länger im Klub sind, sind immer etwas verantwortlich dafür, dass in der Kabine alle in die gleiche Richtung rudern, dass jemand, der ein wenig entgleist, am Ohr gezogen und wieder auf den Weg gebracht wird.“
So bitter die Sommer 2021 und 2022 für manche Madridistas auch verlaufen sind, aber nicht nur angesichts der vielen Titel, sondern auch aufgrund der Entwicklungen und überraschenden Variabilität von Vinícius, Bellingham und Co. hat sich das Warten gelohnt. Und die Saga um Mbappé, der schlussendlich zudem ablösefrei kommt (wenn auch mit dreistelligem Handgeld), war so gesehen für einiges gut – Mbappé kommt nicht zu spät, sondern stattdessen in eine noch „fertigere“ Mannschaft als vor zwei oder drei Jahren!
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