
Auf die Defensive ist Verlass
25 Gegentore in 38 Spielen sprechen Bände: Reals Defensive stellt im Vergleich der Spitzenligen statistisch gesehen die beste dar. Dafür waren sowohl das mannschafts- und gruppentaktische Verhalten nach Ballverlust sowie die wieder gewonnene Stabilität in Ballbesitz und individuelle Top-Leistungen ausschlaggebend.
Am augenscheinlichsten im Vergleich zur aus Real-Sicht schwer zu verdauenden Vorsaison ist dabei vermutlich das wieder deutlich effektivere Gegenpressing: Verliert Real den Ball, versuchen die Königlichen das Leder in der Regel direkt zurückzuerobern. Ein Mittel, das nach der ersten Amtszeit Zinédine Zidanes nach und nach verloren ging.
Außerdem sind die Blancos wieder deutlich souveräner in der Spielauslösung und wenn sie in Ballbesitz unter Druck geraten. Zugegebenermaßen hat City den Königlichen erst jüngst mit einem extrem aggressiven Pressing vor allem in der Spielauslösung große Probleme bereitet – über die Saison gesehen haben die Blancos hier aber deutlich an Sicherheit gewonnen.
Zudem erwischte Thibaut Courtois ein hervorragendes Spieljahr und unterstrich nach einer komplizierten Debüt-Saison beim spanischen Rekordmeister, warum dieser den Welttorhüter von 2018 vor zwei Jahren verpflichtet hat. Abwehrchef Sergio Ramos überzeugte mit großen Leader-Fähigkeiten (und sogar erzielten 13 Toren) und leistete sich nur wenige schwächere Auftritte. Ergänzt durch einen gewohnt guten Dani Carvajal und Neuzugang Ferland Mendy, der in der ersten Saisonphase vor allem die Defensive ausbalancierte, im Verlauf der Saison dann aber mit seinem Tempo auch Offensiv zur Waffe wurde, war Real im Abwehrverhalten zumeist auf der Höhe.
Duelle mit Barça zeigen: Real ist taktisch variabel
Es gibt immer wieder Stimmen, die behaupten, Zidane sei taktisch zu eindimensional – hätte keinen Plan B. Das kann man so aber nicht stehen lassen: Grundsätzlich ist korrekt, dass der Franzose in den meisten Partien auf eine 4-3-3-Grundformation setzt. Allerdings ist dieses keinesfalls statisch, sondern enorm flexibel.
Schaut man sich beispielswiese den 2:0-Erfolg gegen den FC Barcelona an, war eben jene Flexibilität ausschlaggebend für den Erfolg. In Kurzform: Defensiv ist es den Königlichen vor allem in Person von Karim Benzema dort gelungen, bereits in Barcelonas Spielauslösung Verlagerungen von Innenverteidiger zu Innenverteidiger zu vermeiden. Dadurch, dass Federico Valverde und Vinicius Júnior ihre Positionen im eigenen Abwehrdrittel situativ so anpassten, dass sie partielle Außenverteidiger gaben und somit die gegnerischen Außenverteidiger aufnahmen, konnte sich die königliche Viererkette auf das Angriffs-Trio der Katalanen fokussieren, sowohl Dribbel- als auch Passwege schließen und zudem die Zwischenlinienräume aktiv verteidigen. Messi war folglich gezwungen, sich den Ball tiefer (weit entfernt vom königlichen Tor) abzuholen.

Offensiv nutzten die Blancos nach Ballgewinnen immer wieder weiträumige Verlagerungen, um das Gegenpressing der Gäste aufzulösen (so auch in Pressingsituationen im Rückspiel gegen City geschehen). Oftmals wurde Valverde – eigentlich zentraler Mittelfeldspieler – auf der ballentfernten Außenposition gesucht. Hier kam Benzema regelmäßig kurz in die Halbposition und setzte – zumeist entweder mit dem ersten oder zweiten Kontakt – den überlaufenden Carvajal in Szene.

Das gleiche Muster wurde auch gespielt, wenn Carvajal andribbelte. Benzemas Verhalten zwang Barcelonas Außenverteidiger, in diesem Fall Alba, zu einer Entscheidung (Rausrücken oder Bleiben) und öffnete den Raum im Rücken der Kette, den in diesen Situationen Valverde mit Tempo bespielte. Auf der anderen Seite bildeten nicht selten Marcelo, Kroos und Vinicius Júnior ein solches Trio, das verschiedene gruppentaktische Mittel erlaubt.

Kein Wunder also, dass der 1:0-Führungstreffer nach demselben Muster, jedoch ohne direkte Einbeziehung des „dritten Spielers“ (hier Benzema) erfolgte. Dadurch, dass der Franzose sich in die Halbposition bewegte und Semedo aus seiner Position lockte, war der Passweg für Kroos geöffnet, der Vinicius Júnior in Szene setzte – 1:0. Das ist aber sicherlich nur der halbe Teil der Wahrheit. Denn: Trotz der taktisch ausgereiften Vorstellung kam Barça auch zu seinen Torchancen, die aber entweder in letzter Sekunde geklärt oder von einem starken Courtois vereitelt worden sind.

Mit derselben Variabilität wie gegen die Katalanen, jedoch weniger Erfolg, bespielten die Merengues auch City im Champions-League-Hinspiel: Durch Isco als „Extra-Spieler“ im Mittelfeld gelang es den Blancos immer wieder, effektive Pressingsituationen herzustellen, die unter dem Strich auch im 1:0 resultierten. Individuelle Fehler sowie das überragend aufgelegte Duo Raheem Sterling und Kevin De Bruyne sorgten aber dafür, dass selbst der gut gewählte Plan an jenem Abend nicht aufging.
Zidanes Rotationsprinzip geht meist auf – zumindest auf dem Papier
Gleich 21 Spieler haben sich in der LaLiga-Saison in die königliche Torschützenliste eingetragen. Dieser Liga-Rekord verdeutlicht, dass die Last bei den Blancos in dieser Spielzeit auf viele Schultern verteilt war.
Insbesondere nach dem Re-Start zahlte sich aus, dass die Blancos über einen extrem tiefen, weitgehend homogenen Kader verfügen, sodass Zidane dem Drei-Tages-Spielrhythmus (nach der Corona-Pause) mit einer leicht ausgeprägten Rotation begegnen konnte – auch wenn die Säulen der Mannschaft gesetzt schienen.
Zweite Scoring-Option nötig: Benzema oft allein auf weiter Flur
Eine der großen Stärken der Königlichen – die Verteilung der Last – beinhaltet aber auch eine Schwachstelle der vergangenen Saison: Mit wettbewerbsübergreifend 27 Toren und elf Assists war Benzema die große Konstante in Reals Offensive. Alleine in LaLiga zeichnete der Franzose für 21 der insgesamt etwas mauen 70 Saisontreffer (30 Prozent) verantwortlich. Dass Kapitän Sergio Ramos mit elf Liga-Treffern (13 Tore insgesamt) zweitbester Torschütze war, unterstreicht eines der größten Probleme des Real-Spiels: eine fehlende klare zweite Scoring-Option.
Denn wenn der Franzose einmal einen schlechten Tag hatte – so insbesondere im Winter häufiger geschehen – waren weder sein direkter Vertreter Luka Jović (27 Einsätze, zwei Tore), der in seiner Premierensaison oftmals unglücklich wirkte, noch der als absoluter Superstar verpflichtete Eden Hazard (22 Spiele, ein Tor, sieben Assists) in der Lage, die königliche Offensive anzuführen. Zugegeben hatten beide Spieler mitunter großes Verletzungspech – Jović scheiterte zudem mehrmals am Aluminium und zwei Tore wurden ihm aberkannt. Oftmals musste das Kollektiv diese Lücke füllen – was in den meisten Fällen, wenn auch teilweise glücklich, gelang.
Da Verpflichtungen à la Kylian Mbappé oder Erling Haaland zumindest in diesem Transfersommer nahezu ausgeschlossen scheinen, liegt die Verantwortung umso stärker in den Händen von Hazard und Jović. Während Hazard bereits öffentlich ankündigte, seine schlechte Premierensaison wettmachen zu wollen – dafür bedarf es höheres Tempo, mehr gewonnene offensive Eins-gegen-Eins-Situationen und schlichtweg mehr Zug zum Tor – muss Jović den Konkurrenzkampf mit Benzema annehmen und in den Spielen, in denen er das Vertrauen bekommt, mit Präsenz überzeugen. Immerhin: Laut REAL TOTAL-Informationen hat Zidane noch weiter Geduld mit dem Serben – er soll bleiben.
Wünschenswert wäre zudem, dass sich Hoffnungsträger Marco Asensio, der in den zehn Einsätzen nach einjähriger Leidenszeit immerhin drei Tore und einen Assist beisteuerte, und somit seinen potenziellen Wert für die Offensive des spanischen Meisters andeutete, stabilisiert und eine weitere verlässliche Socring-Option darstellt. Auch die jungen Brasilianer Rodrygo (sieben Tore, drei Assists) und Vinicius Júnior (fünf Tore, vier Assists) haben ihre Klasse bereits in einigen Spielen unter Beweis gestellt. In der kommenden Saison sollte der Fokus bei beiden Akteuren auf das Erlangen von mehr Konstanz und einer noch besseren Entscheidungsfindung liegen. Insbesondere im Fall von Vinicius Júnior wurde in vielen Situationen deutlich, dass er noch nicht das ideale Gefühl dafür entwickelt hat, wann er selbst den Abschluss suchen sollte und wann ein Abspiel die bessere Option darstellt.
Mit Gareth Bale, der mit drei Toren und zwei Assists eine für seine Verhältnisse extrem schwache Saison spielte und zudem mit vielen Aktionen abseits des Platzes negative Schlagzeilen produzierte, scheint Zidane nicht erst seit der Nicht-Berücksichtigung in Manchester nicht mehr zu planen. Selbiges gilt für James Rodríguez.
Rhythmuswechsel als Schlüssel in statischen Phasen
Während das offensive Umschaltspiel Zidane-like viele Tore ermöglichte, hatten die Königlichen bei stabileren Ballbesitzpassagen hier und da Probleme beim Herausspielen klarer Tor-Chancen. In vielen Partien wirkten die Madrilenen so, als würden sie den Ball zwar sicher bewegen und zumeist mühelos ins Angriffsdrittel transportieren können. Dort fehlten den Zidane-Schützlingen zumindest von außen betrachtet oftmals die Mittel, um sich eine große Anzahl an Torchancen zu erarbeiten.
Immer dann, wenn es den Blancos gelungen ist, einen Tempowechsel herbeizuführen – etwa durch ein Überlaufen oder ein Spiel über den Dritten am Flügel oder ein gewonnenes offensives Eins-gegen-Eins-Duell – wurde es brenzlig im gegnerischen Strafraum. Diese Aufgabe könnten Spieler wie Hazard, Vinicius oder Asensio übernehmen, die allesamt über das nötige Tempo verfügen und zudem handlungsschnell und technisch versiert sind.
Aus der Mittelfeldzentrale scheint Valverde hier die beste Option darzustellen, da er wie kein anderer zentraler Mittelfeldspieler in den Reihen der Königlichen mit gezielten Tiefenläufen (mit und ohne Ball) in der Lage ist, eine statische Situation binnen weniger Sekunden in eine enorm dynamische Situation zu transformieren. Dabei überzeugt der Uruguayer mit einer immens guten Orientierung und Wahrnehmung, wodurch er Spielsituationen schnell erfasst und sich dank seines Timings und Tempos oftmals in gute Positionen bringt. Valverde ist somit der ideale Box-to-Box-Spieler, der an der Seite von Stratege Toni Kroos und Abräumer Casemiro ein enorm wichtiges Element für das auf Umschaltmomente ausgerichtete Angriffsspiel der Königlichen darstellt.
“Real-Gen” muss wachsen
Nicht zuletzt das Rückspiel im Champions-League-Achtelfinale hat aufgezeigt, wo bei den Blancos noch Luft nach oben ist. Fehlt mit Sergio Ramos der zentrale Führungsspieler, kann man als Zuschauer das Gefühl bekommen, dass dieses Mentalitäts-Vakuum insbesondere in „Big Games“ so noch nicht zu füllen ist.
Klar ist: Jeder Spieler wird versucht haben, das Leistungsmaximum abzurufen. Etwas anderes zu unterstellen, ist Unfug. Jedoch hat das Gastspiel in Manchester verdeutlicht, dass selbst ein Weltmeister wie Raphaël Varane in Abwesenheit des Kapitäns weniger souverän wirkt als gewohnt (nicht nur wegen seines rabenschwarzen Tags). Ramos-Vertreter Éder Militão hat man hingegen angemerkt, dass er nur wenig Einsatzzeiten erhalten und zudem mit seinen 22 Jahren erst wenige Spiele auf absolutem Spitzenniveau spielen musste und zugleich noch jede Menge Entwicklungspotenzial hat.
Bis auf Benzema war an jenem Tag kaum einem Spieler die letzte Überzeugung anzusehen, das Hinspielresultat drehen zu können. Hier gilt es für Zidane anzusetzen das „Real-Gens“ jedem Spieler einzuimpfen und möglicherweise neue „Lautsprecher“ zu installieren.

Zidane 2.0: Ein variables Real mit Luft nach oben
Die erste vollständige Saison seit Zidanes Rückkehr ist unter dem Strich eine gute, da sind sich viele Experten einig. Zwei Titel – vor allem der langersehnte Liga-Titel – sorgen auch bei den erfolgsverwöhnten Fans und Mitgliedern der Königlichen für zufriedene Gesichter.
Und auch wenn es den Blancos insbesondere in den Duellen mit dem FC Barcelona, Atlético oder Paris Saint-Germain im Champions-League-Gruppenrückspiel gelungen ist, auch die “großen Gegner” variabel zu bespielen, scheint die Luft auf dem absoluten Top-Niveau etwas dünner zu werden. Nicht zuletzt die beiden Vergleiche mit Manchester City – auch wenn eine ewig lange Pause dazwischen lag – haben die Probleme der Blancos gut aufgezeigt: Die Mannschaft ist gut, aber eben noch nicht exzellent ausbalanciert. Fehlen auch nur “kleine” Bausteine – etwa die Präsenz eines Mentalitätsmonsters wie Sergio Ramos – sind Gegner wie City zurzeit eine Nasenlänge voraus.
Um wieder einen ernsthaften Angriff auf Europas Spitze zu starten, bedarf es neben der defensiven Stabilität vor allem noch mehr Lösungen in stabilen Ballbesitzphasen. Ein schnelles Umschaltspiel ist Gold wert, ebenso wie ein greifendes Gegenpressing – dennoch wäre es sicher hilfreich, wenn die Blancos noch gezieltere Rhythmuswechsel einstreuen könnten: Mit Mendy, Carvajal und Valverde aus der Tiefe sowie Vinícius, Rodrygo und vor allem einem Eden Hazard in guter Form im Angriffsdrittel verfügen die Madrilenen über die nötigen Waffen, die es hinsichtlich der kommenden Spielzeit zu justieren gilt.
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