
Spektakel und Unterhaltung wichtiger als das reine Ergebnis
Aggressives und kompromissloses, mitunter mannorientiertes Pressing sowie eine stets hohe Intensität im Defensivspiel bei einer erhöhten Risikobereitschaft und hoch agierenden Verteidigern im Offensivspiel – das Erfolgsrezept von Atalanta Bergamo ist vielseitig.
Besonders stark ist der Vorjahresdritte der Serie A also vor allem, weil das Team von Gian Piero Gasperini offensiv und defensiv einen klaren Plan verfolgt. Der Fokus des Baumeisters des Erfolges liegt aber eindeutig in der Offensive: „Natürlich ist ein glücklicher Sieg in letzter Sekunde befreiend. Doch keine Befriedigung ist größer als anerkennender Applaus von den Rängen für deine Spielweise. Das Credo Sieg um jeden Preis schadet dem Sport“, sagte Gasperini vor einiger Zeit hinsichtlich seiner offensiven Spielidee. Um diese Auffassung von Fußball umsetzen zu können, kann sich der 63-Jährige einerseits aus einer hervorragenden Jugendabteilung (Atalantas U19 belegte vor Abbruch der Corona-Saison 2019/20 in der „Primavera 1“ Platz eins) bedienen und tätigt andererseits seit vielen Jahren enorm geschickte Transfers. Es scheint sich schlichtweg jeder Spieler dem Klub unterzuordnen – niemand ist unersetzbar, wie auch Papu Gómez jüngst zu spüren bekam.
Gefährlich sind die Norditaliener, die in der vergangenen Saison mit 98 erzielten Toren die mit Abstand stärkste Offensive der Serie A stellten und auch in dieser Saison bereits 53 Treffer auf dem Konto haben (2,3 Tore pro Spiel; nur Tabellenführer Inter ist mit 57 erzielten Toren besser), vor allem aufgrund ihrer enorm vielseitigen offensiven Mittel. Auf dem Papier sind hier der Kolumbianer Luis Muriel, der in der Vergangenheit unter anderem für den FC Sevilla die Schuhe schnürte, mit 14 Toren in 21 Liga-Spielen sowie dessen Landsmann Duván Zapata (neun Tore in 23 Liga-Spielen) offensichtlich die schärfsten Waffen. Die Erfolgsformel im Angriffsspiel ist jedoch weitaus komplexer.
Maximale Flexibilität im Spielaufbau
Auffällig ist grundsätzlich, dass die Schwarz-Blauen zumeist aus einer 3-4-2-1- oder einer 3-4-1-2-Grundordnung agieren, die allerdings äußerst variabel interpretiert wird. So erfolgt die Spielauslösung zumeist aus einer Dreierkette. Je nach Spielsituation sind die Lombarden dabei sowohl in der Lage, das Übergangsspiel durch das Zentrum oder über die immens laufstarken Außenspieler zu gestalten.
Interessant ist, dass die Gasperini-Elf, sofern sie den Aufbau über die Außenbahn wählt, diese in der Regel doppelt besetzt. Neben dem nominellen Außenspieler bewegt sich zumeist einer der zentralen Spieler mit in Richtung der Außenpositionen. Auf diese Weise hat der Ballbesitzer zumeist mehrere potenzielle Anspielstationen auf verschiedenen Ebenen vor sich, die grundsätzlich ein vertikales Spiel erlauben. Außerdem bedeuten mehr Spieler in der Nähe eines potenziellen Ballverlustes, dass ein effektives Gegenpressing unverzüglich eingeleitet werden kann.

Sieht sich Atalanta einem gut organisierten Gegner gegenüber, verlagern die Lombarden das Spiel immer wieder, bis sich die Möglichkeit des vertikalen Spiels ergibt. Gelingt dies nicht über den Flügel, sucht die Gasperini-Elf Lösungen im Zentrum. Hier ist bemerkenswert, dass jeder Spieler – ganz gleich ob Führungsspieler Josip Iličić, Mario Pašalić oder Shooting-Star Matteo Pessina – den Ball fordert. Ferner suchen die Lombarden auch gegen hoch pressende Gegner primär spielerische Lösungen, wenngleich hier der vertikale Ball tendenziell schneller gesucht wird – mitunter auch als Flugball, etwa in Richtung Zapata.

Besonders auffällig ist außerdem, dass „La Dea“ den eigenen Spielaufbau – sofern es sich nicht um Umschaltsituationen handelt – oftmals sukzessive nach vorne schiebt. Das hat zur Folge, dass Atalanta oftmals mit allen Spielern tief in der gegnerischen Hälfte positioniert ist. Hier agiert zumeist zumindest ein Innenverteidiger als eine Art zusätzlicher Zentrumsspieler, um die Passoptionen zu erhöhen.

Viele Waffen: Tore durchs Zentrum, über Flügel oder Umschaltspiel
Beim Herausspielen von Torchancen präsentieren sich die Lombarden dann so variabel, wie bereits in der Spieleröffnung und im Übergangsspiel: So ist ein klassisches Muster der Torerzielung, dass der Ball aus den Halbpositionen auf die Außenbahn gespielt wird.

Bei der anschließenden Hereingabe lebt die Gasperini-Elf in der Regel neben der physischen Präsenz vor allem von einer guten Strafraumbesetzung. Das bedeutet, dass Zapata und Co. sich im gegnerischen Strafraum auf verschiedenen horizontalen und vertikalen Ebenen bewegen, um die Wahrscheinlichkeit, die Hereingabe auf direktem oder indirektem Wege im gegnerischen Tor unterzubringen, deutlich steigt.

Wählt der kommende Gegner der Blancos hingegen den Weg durchs Zentrum, suchen die Norditaliener oftmals Zapata (situativ aber natürlich auch andere Zielspieler) per scharfem, leicht diagonal gespieltem Ball. Über ein „Klatschenlassen“ wird der Abschlussspieler dann freigespielt. Aber auch Steckpässe (nach Dribbling) sind klassische Werkzeuge der Norditaliener.

Ein enorm erfolgreiches Mittel ist zudem das Umschaltspiel. Gewinnt „La Dea“ den Ball, geht die Post ab: Nahezu alle Spieler sind bereit, im höchsten Tempo den Konterangriff mitzugestalten und auf diese Weise die möglichen Anspielstationen und somit auch die Torwahrscheinlichkeit zu maximieren.

Diese Eigenschaft ist zugleich Ausdruck der außergewöhnlichen Mentalität, die Atalanta in den vergangenen Spielzeiten zu den „heißesten Mannschaften in Europa“ werden ließ. Gasperinis Mannen gehen ohnehin immer mit Feuer und Risikobereitschaft zu Werke und sind bereit, teilweise enorme Laufleistungen abzurufen, um den eigenen Matchplan zu befolgen. Würden sie das nicht tun, würde das immens weiträumige Gegenpressing – ein zentraler Schlüssel für das starke Umschaltspiel – so nicht gelingen.
Schnell im Kopf und in den Beinen: So ist Atalanta zu knacken
Trotz aller positiver Eigenschaften hat das italienische Top-Team natürlich auch Schwachstellen: In Schwierigkeiten kommt die Hintermannschaft um Kapitän Rafael Tolói immer dann, wenn man diese zu Fehlern im Spielaufbau zwingt und anschließend mit hohem Tempo konfrontiert. In eben solchen Situationen – wie etwa in der Coppa Italia gegen Lazio Rom – wirken die Lombarden verwundbar, da die physisch starken Innenverteidiger nicht immer über das nötige Tempo verfügen und zudem in puncto Handlungsschnelligkeit Defizite aufweisen.

Ähnlich vielversprechend sind zudem geschickte Läufe in den Rücken der Dreierkette respektive in den Grenzbereich zwischen den Zuständigkeitsbereichen der Innenverteidiger. Ist sich die Atalanta-Defensiv uneins, wer die Verantwortung für einen Gegenspieler übernehmen soll, klingelt es in dieser Saison oftmals. Ohnehin implizieren 31 Gegentore in 23 Liga-Spielen, dass die „Schwarz-Blauen“ durchaus verwundbar sind. Und: In den letzten 20 Partien hat Atalanta zwar nur ein Mal verloren (bei zwölf Siegen), blieb aber nur sieben Mal ohne Gegentor.
Eines dürfte klar sein: Will Real Madrid verhindern, dass sich das in der Spitze des italienischen Fußballs etablierende Team aus der Lombardei seine märchenhafte Königsklassen-Geschichte fortsetzt, müssen die Merengues hochkonzentriert agieren und vor allem die nötige Intensität mit in den Norden Italiens bringen. Bergamo hat bereits mehrmals gezeigt, dass es nicht nur an, sondern mitunter auch über die Leidensgrenze hinauszugehen bereit ist.
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