Analyse

Defensive bis Wechsel: Fünf Erkenntnisse zum Jahresabschluss

Real Madrid lässt sich auch von der gigantischen Personalmisere nicht beirren und beendet das Jahr 2021 als unangefochtener Tabellenführer. Am Mittwochabend setzten sich die Blancos mit 2:1 in Bilbao durch. Die hervorragende Zwischenbilanz basiert vor allem auf einer stabilen Defensive und Kompaktheit als Team, aber auch einem unzähmbaren Karim Benzema, wohingegen nicht nur Eduardo Camavinga, sondern auch Youngster Peter González Lust auf mehr machten. Einzig Carlo Ancelottis Wechselpolitik bleibt weiter etwas rätselhaft. Fünf Erkenntnisse zum letzten Spiel des Jahres.

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Ancelotti dirigiert sein Team zum Erfolg, die Stimmung im Team stimmt – Fotos: Imago

1. Defensive Stabilität als Kollektivarbeit

Auf den ersten Blick ähnelt das Spielkonzept von Real Madrid im Herbst 2021 durchaus dem Ansatz von Zinédine Zidane aus der Rückrunde 2019/20, als der Franzose defensive Stabilität und Disziplin zur Hauptsäule auf dem Weg zur 34. spanischen Meisterschaft etablierte. Im Gegensatz zu Zidane verlässt sich Carlo Ancelotti allerdings keineswegs auf Minimalismus im Spiel nach vorne – seine Mannschaft zeigt sich seit Saisonbeginn durchaus variabel und vielseitig, ohne nur von einem Stürmer abzuhängen. Auf beiden Seiten des Balles definiert sich das Team durch Teamarbeit und Kollektivdenken, man präsentiert sich in jeder Hinsicht als Einheit.

Ancelottis Konzept spiegelt sich nach 19 Ligaspielen auch in Zahlen wider: Die königlichen haben mit 41 Treffern nicht nur die beste Offensive, sondern stellen mit nur 16 Gegentoren auch die zweitbeste Abwehr der Liga – nur Sevilla kassierte weniger Tore (13). Die neu respektive wieder erlangte Abwehrstärke ist zweifelsohne der Hauptgarant für eine sehr erfolgreiche Hinrunde und die souveräne Tabellenführung mit acht Punkten Vorsprung vor dem ersten Verfolger Sevilla. Vergleicht man das aktuelle Defensivkonzept mit der meisterlichen Abwehrshow aus der Rückrunde 2019/20, wird noch ein wesentlicher Unterschied sichtbar: Der furiose Schlussspurt nach der Corona-Pause im Juni 2020 war vor allem eine einmalige Willensleistung, getragen von der individuellen Mentalität und Qualität einzelner Akteure wie Sergio Ramos oder Thibaud Courtois, und war in der Intensität später im Liga-Alltag nicht mehr reproduzierbar. Unter Ancelotti verteidigt Madrid als Team, es ist dahinter ein Konzept zu erkennen, bei dem einzelne Ausfälle zu keinem gravierenden Qualitäts- und Leistungsabfall führen. Den Umbau der Innenverteidigung nach dem Abgang der jahrelangen Säulen im Abwehrzentrum meisterte Reals Cheftrainer erstaunlich schnell und geräuschlos. Gab es zu Saisonbeginn noch ein paar wacklige Vorstellungen und einige Gegentore, präsentiert sich Real spätestens seit Anfang November 2021 im Spiel gegen den Ball stabil, homogen und abgeklärt. Fallen Stammspieler wie David Alaba oder etwa Dani Carvajal einmal aus, ersetzen sie Nacho Fernández und Lucas Vázquez konstant auf einem soliden Niveau. Es ist außerdem klar erkennbar, dass sich auch das Mittelfeld und der Angriff an der Defensivarbeit beteiligen, und zwar nicht willkürlich und situativ, sondern mit einer klaren Aufgabenverteilung. Es sind ein Plan und Konzept zu erkennen, die zu diesem Zeitpunkt erstaunlich ausgereift wirken.

Die zweite Hälfte in Bilbao, in der die Königlichen im Wesentlichen ihre Führung verwalteten, zeigte wiederholt, dass Reals Defensive Spiele gewinnen kann, ohne dabei kräftezehrende Abwehrschlachten zu veranstalten und sich auf Glück oder Zufall zu verlassen.

2. Benzemas unfassbare Bilanz

Der französische Mittelstürmer trug nach dem Abgang von Cristiano Ronaldo 2018 Reals Offensive jahrelang alleine auf seinen Schultern und lieferte dabei Saison für Saison herausragende Leistungen. 2021/22 wird er endlich entlastet, denn mit Vinícius Júnior hat Ancelottis Team endlich einen zweiten verlässlichen Scorer. Das führte aber nicht etwa zu einem Leistungsabfall bei Benzema: Der 34-Jährige trifft seit dem Sommer mehr und öfter denn je. Nach dem Doppelpack in Bilbao stehen bei ihm allein LaLiga 15 Tore und sieben Assists bei insgesamt 18 Einsätzen. Damit ist er ligaweit mit Abstand der treffsicherste Spieler. In der Gruppenphase traf er fünfmal in fünf Partien und lieferte eine Torvorlage.

Betrachtet man die Zahlen für das gesamte Kalenderjahr 2021, so muss man von historischen Ausmaßen sprechen: Mit 30 Liga-Toren in 2021 hat Benzema nicht nur seinen bisherigen Höchstwert (27 in 2019) übertroffen, sondern ist in Sphären vorgestoßen, die in jüngerer Vergangenheit nur den beiden Ausnahmeerscheinungen Cristiano Ronaldo und Lionel Messi, die in diesem Jahrtausend als Einzige 30 oder mehr Ligatore innerhalb eines Jahres erzielen konnten. Seit 2000 gelang das in LaLiga außerdem nur noch Luis Suárez, Radamel Falcao und Ronaldo Nazário.

Faszinierend ist vor allem die Tatsache, dass Benzema trotz seines fortschreitenden Alters nicht nur sein Weltklasseniveau hält, sondern sogar von Jahr zu Jahr besser wird. Zeitgleich wirkt er fitter und dynamischer denn je zu sein. “Kann sein, dass es meine beste Form ist. Ich fühle mich jetzt sehr gut, viel besser als vor zwei oder drei Wochen, denn ich hatte starke Schmerzen im Muskel”, erklärte er selbst nach dem 2:1-Sieg. Sein Spiel ist trotz solch herausragender Einzelleistungen aber so mannschaftsdienlich wie eh und je. Angesichts dieser Trefferquote und der unglaublichen Konstanz, mit der er eine ganze Mannschaft auf allerhöchstem Niveau das ganze Jahr getragen hat, ist es umso bedauerlicher, dass er bei der Vergabe des Ballon d’Or nicht zum Weltfußballer des Jahres 2021 gewählt wurde. 

Karim Benzema Real Madrid
In 2021 in überragender Form: Karim Benzema erzielte in den letzten Monaten 30 Tore – Foto: IMAGO / ZUMA Wire

3. Mit Camavinga ist zu rechnen

Die Verpflichtung des 19-jährigen Mittelfeldakteurs von Stade Rennes im vergangenen Sommer schien eher eine Investition in Reals Zukunft denn eine kurzfristige Kaderergänzung zu sein. Verletzungsbedingte Ausfälle von Toni Kroos und Luka Modrić bescherten Eduardo Camavinga zu Saisonbeginn jedoch regelmäßige Einsätze: Er bestreitete die ersten sechs Liga-Spiele allesamt und stand dabei drei Mal in der Startelf. Nachdem aber das etablierte Mittelfeld-Trio Modrić-Casemiro-Kroos wieder komplett fit und beisammen war, verschwand der junge Franzose langsam von der Bildfläche, wie auch Carlo Ancelotti vor dem Gastspiel in Bilbao erkannte: “Es ist eine Chance für die Mannschaft und für Spieler wie Camavinga, der zuletzt nicht viel gespielt hat, den wir heute und für die Zukunft aber auf dem Zettel haben.”

Die personelle Notlage verschaffte Camavinga erst im letzten Spiel des Jahres einen erneuten Startelfeinsatz. Dabei zeigte er all die Attribute, die den Madridismo schon in der Anfangsphase der Spielzeit verzückt hatten: Dynamik, Passtempo, Raumgefühl und eine für sein junges Alter außergewöhnliche Reife auf dem Platz. Dass er im San Mamés einige Male etwas zu ungestüm agierte und daraus Ballverluste entstanden, ist angesichts seines jungendlichen Alters nur all zu verständlich. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, dass mit ihm kurzfristig zu rechnen ist und weitere Einsätze bald folgen werden.

4. Peters acht Minuten machen Lust auf mehr

Die Corona-Welle, die in der vergangenen Woche Carlos Ancelottis Profikader dramatisch dezimierte, bescherte einem jungen Mittelfeldspieler aus der Castilla erstmalig einen Platz im Kader der Königlichen. Während es am vergangenen Sonntag gegen Cádiz (0:0) nicht für einen ersten Einsatz reichte, wurde der 19-Jährige Peter Federico González am Mittwochabend im Auswärtsspiel beim Athletic Club in der 86. Minute für Eden Hazard eingewechselt. Der achtminütige Einsatz von Peter sollte auf keinen Fall überbewertet werden, und dennoch hinterließ der Youngster in dieser kurzen Zeit einen Eindruck, den man Beachtung schenken muss. In einer kritischen Phase in einem der schwierigsten Auswärtsspiele der ganzen Saison, in der die Blancos das knappe 2:1 verteidigen mussten, zeigte der gebürtige Madrilene keinerlei Angst und lieferte einen starken Key-Pass auf Luka Jović und ein Beinahe-Tor. Eine kurze, aber starke Bewerbung für noch mehr Einsätze in naher Zukunft.

Regelmäßige Beobachter der Castilla wird Peters Auftritt weniger überrascht haben. Seit einiger Zeit heißt es in Valdebebas, dass Peter das Potenzial für ganz oben habe. In der zweiten Mannschaft der Blancos spielt er als Rechtsaußen, für seine Vielseitigkeit spricht aber, dass er in der Mannschaft von Trainer Raúl González Blanco auch schon als linker Verteidiger und Linksaußen agiert hat. In der laufenden Saison absolvierte Peter 16 Partien für die Castilla, schoss dabei zwei Tore und gab drei Vorlagen. Noch mehr konnte er zuletzt in der UEFA Youth League auf sich aufmerksam machen, wo er in fünf Partien neben einem Assist auch selbst zwei Treffer markierte.

Es gibt neben dem Nachnamen noch einige Parallelen zwischen dem 19-jährigen und seinem Übungsleiter Raúl. Peters Statur, Technik und Dribbelstärke erinnern durchaus an den jungen Spieler Raúl. Wie die Real-Ikone wuchs Peter in der Colonia Marconi im Süden der spanischen Hauptstadt auf. Obwohl Peter schon in den Jugendkategorien der Blancos sein großes Talen aufblitzen ließ, war doch erst Raúl, unter dem ihm der entscheidende Schritt in Richtung Profimannschaft gelang. Hoffentlich ergeben sich in der Zukunft noch weitere Parallelen zwischen dem jungen Juwel und dem Rekordspieler der Königlichen.

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Den Namen Peter Federico González könnte man sich merken – Foto: REAL TOTAL

5. Ancelottis Drahtseilakt

Reals Leistungen, Ergebnisse und die allgemeine spielerische Entwicklung lassen wenig Raum zur Kritik an Carlo Ancelotti: In allen drei genannten Segmenten ist der bisherige Verlauf der Saison sehr erfreulich und erfolgreich.

Zwei Dinge lassen jedoch viele Beobachter die Arbeit des italienischen Trainers mit Besorgnis betrachten. Die Tatsache, dass der 62-Jährige wenig bis kaum rotieren lässt und beinahe immer dieselbe Mannschaft inzwischen jedes Spiel absolviert, schürt angesichts des vollen Spielkalenders und der Anzahl der Spiele bis Saisonende eine latente Angst, dass sich Schlüsselspieler in entscheidenden Phasen der Spielzeit aufgrund der Belastung verletzen und dadurch das bisher Erreichte schnell verspielt werden könnte. Fast noch rätselhafter sind Ancelottis Ein- und Auswechslungen in den vergangenen Wochen: Er wechselt selten und spät. So auch am Mittwochabend in Bilbao, wo er alle drei Wechsel erst zwischen der 85. und 90. Minute vornahm, was angesichts der enormen Personalmisere zumindest ein wenig verwunderlich wirkt.

Im Augenblich wird diese Kritik nicht laut geäußert, denn die Ergebnisse und Leistungen geben Ancelotti schlicht und ergreifend Recht. Es bleibt nur zu hoffen, dass sein Vorgehen keine negativen Folgen für den weiteren Saisonverlauf haben wird oder dass er noch rechtzeitig umdenken wird.

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Kommentare
Wollte ich auch grad korrigieren :)
 
Generell finde ich den Artikel sehr gut :)
Zu Punkt 5 (das kommt ja laufend in diversen Foren oder Social Media Beiträgen) finde ich hat Carlo (bis auf den Punkt mit den späten Wechsel) aber alles richtig gemacht.

Never change a winning Team. Vor allem wenn man das schwächeln der Konkurrenten so gut ausnutzen konnte. Jetzt hat man so viele Punkte Vorsprung, dass man eben in der heißen Phase Frühjahr (Pokal und CL Play Offs) in der Liga das eine oder andere Mal mehr rotieren kann ohne Probleme (sogar mal die halbe Mannschaft austauschen und nicht nur einzelne Spieler).

Die Punkte die jetzt gesammelt wurden nimmt uns keiner mehr weg. Und wenn wir ehrlich sind fallen mindestens gleich oft wenn nicht sogar öfters Spieler verletzt aus die eben nicht viel spielen. (Isco, Mariano, Jovic, Bale, Hazard, Rodrygo usw) Schon klar, eine muskuläre Verletzung ist wahrscheinlicher bei einem der sehr viel spielt als bei einem Bankerlsitzer (wobei auch nicht immer). ABER deswegen durchrotieren wo das zumeist mehr Punkte gekostet als gebracht hat? Nur weil sich vielleicht ein oder 2 mal muskulär verletzen könnten? Verletzungen können immer und überall passieren da ist nicht zwingend immer Überlastung durch zu viele Spielminuten der Grund.

Einzelne Spieler immer wieder mal rotieren und früher wechseln ja auf alle Fälle.
3-4 Spieler zugleich rotieren wenns so gut lauft? Im Herbst nein. Im Frühjahr mit dem Vorsprung auf alle Fälle.
 
Ich hoffe inständig, dass Ancelottis Sturheit nicht die Meisterschaft kostet. Aber zum Glück sind die anderen Mannschaften aktuell nicht konkurrenzfähig. Außer Sevilla
Das ist echt jammern auf höchstes Niveau.auf einen schlag 9 ausfälle kompensieren ,was auch gelingt ,Tabellenführung ausgebaut,aber es ist noch immer nicht gut genug.Aber ich denke das wird sich bis in den sommer gehen.
Früher wurde sich aufgeregt,das man Patzer von farca oder Athletico nie ausnutzen konnte,jetzt sind diese beiden Vereine Lichtjahre von uns entfernt .da frag ich mich ,was hätte Ancelotti anders mache sollen?
 
Ancelotti macht das bislang sehr gut und ich hoffe, dass er nun endlich seinen ersten Ligatitel mit Real holen kann! Er hat den Spielwitz und die Euphorie wieder zurückgebracht und dafür bin ihm wirklich dankbar. Weiter so! Hala Madrid!
 

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