
Wie viel Kult hat Atlético noch?
Man muss Real Madrid nicht mögen. Der Anspruch, jeden Titel zu gewinnen und die besten Spieler zu haben, mag manchen als genauso überheblich daher kommen, wie die weißen Trikots und das neue und bald glänzende Bernabéu. Aber immerhin: Bei Real Madrid bekommt man genau das, was man erwartet, was man sieht. Ob das bei Atlético auch noch der Fall ist? Meiner Meinung nach ist der einstige Arbeiterklub mehr und mehr zu einer erbärmlichen Jammerlappen-Truppe verkommen. Underdog? Das war mal. Stattdessen muss man die Frage stellen, wie viel Kult der Klub um den bestbezahlten Trainer der Welt und mit kaum noch Eigengewächsen, sondern einem Kader, der eher einer Real- und Barça-Resterampe gleicht, noch besitzt?
Denn nicht nur rund um das Copa-Derby sind Dinge vorgefallen, weswegen ich sicher bin, dass sich mein Herz für den „richtigen“ Verein mit Respekt und Ehre entschieden hat. So gab es vor, während und nach dem 3:1-Sieg der Blancos einige Details, die dem neutralen Fan möglicherweise gar nicht so aufgefallen sind. Angefangen mit dem Rassismus-Eklat am Donnerstagmorgen. Für den kann Atlético an sich natürlich nichts. Naja: wenig. Denn dass der rechtsradikale wie gewalttätige Fanklub „Frente Atlético“ immer noch im Metropolitano geduldet wird – im Gegensatz zu den „Ultras Sur“, die Florentino Pérez vor Jahren verbannt hat – könnte erst den Nährboden für so eine widerwärtige Tat gelegt haben. Immerhin: Atlético hat sich in einer 199 Wörter langen Pressemitteilung von der Tat distanziert. 199 Wörter „Du du du“, mehr nicht. Keine möglichen Konsequenzen oder Folgen für die (mehr oder weniger offensichtlichen Täter), keine Entschuldigung beim Betroffenen Vinícius Júnior geschweigedenn ein angekündigtes Zeichen der rot-weißen Mannschaft vor dem Anstoß.
Kein Wimpel, keine Vinícius-Nennung, keine Ehre
Aber auch im Bernabéu bewies sich mal wieder, dass Atlético keineswegs der „größere“ Klub ist, sondern ein ganz, ganz kleiner. Angefangen mit einem klitzekleinen Detail vor dem Anstoß: Als die Kapitäne die obligatorischen Wimpel tauschten, war nur einer danach sich nicht zu schade, diesen zu präsentieren, während der andere den gegnerischen Wimpel hinter dem Rücken versteckt hielt. Nur ein Detail, keine große Sache, und dennoch bezeichnend, dass nicht Koke, sondern Karim Benzema diese Größe hatte – übrigens das gleiche war schon beim Supercopa-Clásico der Fall als Sergio Busquets den Real-Wimpel hinter dem Rücken hielt. Zufälle? Vielleicht. Für mich aber ein weiteres Detail zwischen diesen Rivalen.

Zum Sportlichen: Atlético bot mal wieder einen großen Kampf, musste sich schlussendlich aber selbst einem personell stark angeschlagenen Real Madrid geschlagen geben. Als Vinícius in der 121. Minute der 3:1-Schlusspunkt gelang, kam es für Madridistas zu einem „Happy End“ nach einem (wiedermal) schwarzen Tag für die spanische Gesellschaft. Und zu einer weiteren verpassten Chance von Atlético, nicht Größe zu zeigen, sondern einfach „normal“ zu agieren. Was war passiert? Ein Blick auf die Twitter-Seite der Rojiblancos: Beim 2:1 lautete der Tweet noch (verkürzt) „Gol del Benzema“. Aber beim 3:1 hieß es plötzlich nur noch „Gol del Real Madrid“. Der Torschütze nicht erwähnt. Noch ein Zufall?

Rot für Ceballos? Gil Marín wittert Verschwörung
Nach dem mehr oder weniger verdienten Pokal-Aus war auch der Schiedsrichter ein Thema. Dass sowohl Diego Simeone als auch Jan Oblak noch eine zweite Gelbe Karte für Dani Ceballos forderten, mag mittlerweile zum Fußball dazu gehören, zumindest zur besonderen Spannung eines Derbys – darum soll es hier nicht gehen. Wohl aber um das, was 23 Stunden später noch passiert ist, als Miguel Ángel Gil Marín, der Geschäftsführer von Atlético, eine Pressemitteilung veröffentlichen ließ, und sich nicht bloß über die Szene aufregte, sondern gleich eine Verschwörung witterte. Und sich um kein polemisches Wort zu schade war. „Jeder, der von außen zuschaut, kann sehen, dass seit Jahrzehnten fast immer das Gleiche passiert. Leider überrascht das niemanden mehr, es ist keine Neuigkeit“, steigert er den Hass und das Gefühl des ungerecht behandelt seins einiger Atleti-Fans noch mehr als eh schon. 508 Wörter „Mimimi“, also mehr als doppelt so viele wie in dem Kommuniqué, in dem sich der Verein mal wieder von den eigenen „Fans“ distanzieren musste. Teuflisch clever: Der Verein lenkt so von den eigenen Themen ab, immerhin erlebt man unter Simeone die aus Punkte-Sicht schwächste Saison, dazu das mehr oder weniger hausgemachte Rassismus-Problem, und lenkt die Aufmerksamkeit auf das böse Real Madrid und sonstige Mächte, von denen man schon immer unterdrückt wurde. Typisch Atleti?
Miguel Ángel Gil: “Con 0-1, en el minuto 71, jugándose el pase para semifinales de Copa en su propio estadio, dejar al Real Madrid con 10 jugadores son palabras mayores”
— Atlético de Madrid (@Atleti) January 27, 2023
Nach Rassismus: 199 Wörter. Nach Schiedsrichter-Polemik: 598 Wörter
Für mich ist klar: Dieser Verein ist eine Schande! Er bietet Rassisten nicht nur einen Platz, er fördert den Hass noch mehr. Auch Koke war vor dem Liga-Derby im September einer der Steine, der den eh schon in Spaniens Gesellschaft köchelnden Rassismus zum Überlaufen brachte, als er seinen Anhängern mehr oder weniger „erlaubte“, auszurasten für den Fall, dass Vinícius ein Tor tanzend bejubeln würde. Eine Schande und ein kleiner Klub – in Erinnerung ist dabei immer noch das Derby im März 2022 als Real Madrid als frisch gekürter Meister ins Metropolitano kam. Damals hat Atlético gegen den noch katernden Meister zwar das einzige der letzten 13 Liga-Derbys gewonnen, aber mal wieder Ehre verloren. Denn auch die dritte Gelegenheit in der Geschichte auf einen „Pasillo“ ließen die Rojiblancos verstreichen – schon wieder verweigerten sie ihrem Stadtrivalen den Ehrenspalier. „Orgullosos de no ser como vosotros“ schreiben sie sich auf die Fahne: Stolz, nicht wie ihr zu sein. Mittlerweile kann das wohl eher jeder Nicht-Atlético-Fan behaupten. Denn meiner Meinung nach ist an Atlético nichts mehr kultig, wenn es das denn jemals war und gab…
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