
Verfasst von @Los_Merengues nach der Derby-Schlappe in der REAL TOTAL-Community:
Es ist sicher falsch, immer alles auf den Trainer schieben zu wollen. Ich finde es aber auch falsch, ihn bei der Diskussion immer ganz herausnehmen zu wollen.
Der Trainer hat in Madrid bei der Kaderplanung weniger mitzureden als anderswo, da bin ich einverstanden. Trotzdem könnte man vielleicht auch mal den Mund aufmachen und nicht alles tatenlos über sich ergehen lassen, etwa wie der Verein den zweitbesten Torschützen der Vereinsgeschichte ersatzlos abgibt. Mourinho oder Zidane hätten sich von Pérez so einen Kader kaum wortlos auftischen lassen. Eine ruhige Seele zu sein, die nicht anecken will, ist das eine. Und in vielen Situationen auch angemessen, aber es ist was anderes, ein kompletter Ja-Sager zu sein und alles hinzunehmen. Ein Trainer, der irgendwas erreichen will, kann mit diesem Kader aus meiner Sicht nicht zu 100 Prozent zufrieden sein.
Und am Ende des Tages liegt es immer noch am Trainer, das bestmögliche aus den vorhandenen Mitteln herauszuholen, und da hat Carlo zuweilen Luft nach oben. Er packt ein 20-jähriges System aus, stellt seine vertrauten Spieler auf und lässt es gut sein, das mag bei Ramos, Pepe, Marcelo, KMC, Benzema, CR7 und Co. funktioniert haben, die wissen, was zu tun ist. Aber nicht bei so vielen jungen und teils neuen Spieler, die taktisch und erfahrungsmässig noch nicht so weit sind. Wir haben viel zu oft überhaupt keine taktische Ausrichtung in unserem Spiel, kein Pressing, kein Spielaufbau, keine Verschiebung als Team, gar nichts. Man schlägt Flanken oder spielt den Ball nach vorne in der Hoffnung, irgendjemand könne etwas damit anfangen. Wir spielen gegen jeden Gegner gleich, egal ob gegen Manchester City im CL-Halbfinale oder gegen Drittligisten in der Copa. Unser einziger Stürmer und die beiden Mittelfeldspieler, die mitunter am meisten Schwung bringen könnten, sitzen auf der Bank, dafür spielen wir mit fünf zentralen Mittelfeldspielern, einem Rechtsaußen als Rechtsverteidiger und einem Linksaußen als Stürmer, Bellingham wird in eine Art Torjägerrolle à la Müller gedrängt und vieler seiner Stärken beraubt. Ein 38-jähriger, formschwacher Modrić spielt Stürmer. Vázquez spielt wieder, obwohl gegen Union und wenig überraschend auch im Derby wieder absolut katastrophal war. Kroos wird als einziger, der irgendeine Form von Ordnung ins Spiel bringt, heruntergenommen. Es kommen beim Stand von 3:1 drei Defensive, darunter Mendy, der offensichtlich noch überhaupt nicht wieder bereit ist, auf dem Level zu spielen, bevor Brahim eingewechselt wird. Und so weiter und so fort.
Das Derby geht zu 90 Prozent auf Carlo, unabhängig vom Kader. Und sobald es keinen Unterschied mehr macht, ob der Trainer oder ein Sack Reis an der Seitenlinie steht, ist es Zeit für Nuevo Impulso. Weit weg davon sind wir manchmal nicht mehr. Ja, wir brauchen einen Stürmer und neue Außenverteidiger, aber auch damit sind die taktischen Mängel nicht automatisch behoben.
Und ja, die Frage war nicht, ob das Kartenhaus zusammenbricht, sondern wann. Nun gab es den ersten Warnschuss, weitere werden folgen. Es ist die Folge davon, wenn man jahrelang in einem Echozimmer hockt, wo sich alle gegenseitig nur zusprechen, wie geil doch alles ist und wie richtig man alles macht. Es fehlt uns manchmal einfach eine kritische Perspektive von Außen. Carlo war nie einer, der aneckt, hat seinen Job bis Saison-Ende sicher und geht dann nach Brasilien, entsprechend chillt er sein Leben und macht noch das allernötigste. Sánchez, Calafat und Co. sind alles Top-Leute und machen ihre Jobs sehr gut, aber sie machen halt das, was ihnen aufgetragen wird, ohne es zu hinterfragen. Courtois, Benzema, eine starke Abwehr von 2019 bis 22, Vinícius und eine gute Mischung aus Erfahrung und jungen Wilden haben uns durch die letzten Jahre getragen. Jetzt fällt immer mehr davon weg und die teils eklatanten Mängel kommen zutage. Hat hier wirklich jemand geglaubt, wir geben einen Spieler, der 354 Tore und 165 Assists für den Verein gemacht hat ersatzlos ab, verlieren einen Top-3-Torwart und eine Stütze der Abwehr, während eine weitere heute grauenhaft gespielt hat, haben seit Jahren keine konstanten Außenverteidiger und packen ein 20 Jahre altes System in der absolut minimalistischsten Ausführung aus, und merkt dann keinen Unterschied?
Willkommen in der Realität. Man kann jetzt noch lange auf Vázquez, Alaba, Rodrygo oder gar Carlo herumhacken, aber sind letztendlich alles nur Symptome einer Vereinsstrategie, die zwar in vielen Dingen die richtigen Ansätze hat, aber auch oft nicht ganz zu Ende gedacht ist. Man holt 500 zentrale Mittelfeldspieler, aber keine Außenverteidiger oder Offensivspieler, man gibt immer mehr Leistungsträger ersatzlos ab und schrumpft den Kader zusammen, während gewisse Spieler über ihrem Zenit teilweise jahrelang mitgeschleppt wird, man holt Ex-Trainer, die das Team bis zur Übergangssaison Nummer 367849 verwalten und hofft, dass Mbappé dann bitte endlich aufkreuzen mag, damit sich alle Probleme auf einmal magisch in Luft auflösen. Anhand der großen Erfolge der letzten Saison teilweise verständlich, dennoch konnte man mit etwas Abstand immer auch die Risse und Probleme im Team sehen – die Corona-Meisterschaft und das Double 2022 haben doch über einiges hinweggetäuscht. So langsam gibt es die Quittung, teilweise sehr verzögert, aber irgendwann kommt sie.
Irgendjemand muss dem Verein wirklich mal den Stecker ziehen und komplett neu aufsetzen, anders wird man der Sache wohl kaum mehr beikommen und wäre Pflästerli-Politik aka Symptombekämpfung, wie man in der Schweiz so schön sagt.
Nachtrag:
PS: Ich habe diesen Beitrag nach der ärgerlichen Niederlage gegen Atletico geschrieben und er ist offensichtlich emotional aufgeladen und überspitzt formuliert. Es ist natürlich nicht alles schlecht und insbesondere zu Carlos Kredit scheint er auch einige Lehren aus der Niederlage gezogen zu haben, beispielsweise bleibt Modrić seither draußen und Tchouaméni als Stabilisator vor der Abwehr ist gesetzt, das Spiel gegen Napoli war deutlich besser und auch Resultat mässig kann man bisher zufrieden sein.
Aber aus meiner Sicht hat Carlo mit der taktischen Entscheidung, Modrić in die Startelf zu packen und Tchouaméni draußen zu lassen, merklich dazu beigetragen, dass wir gegen Atlético überhaupt kein Land gesehen haben, und stelle mich so gegen die Aussage, Carlo könne wegen des Kaders überhaupt nichts dafür. Er kann nichts für den Kader direkt, aber sehr wohl für den taktischen Umgang mit der Mannschaft, dass nicht mehr auf die eigene Jugend gesetzt wird oder dass beispielsweise Brahim trotz guter Leistungen kaum Chancen bekommt und eher Verteidiger eingewechselt werden, obwohl wir im Rückstand sind.
Ich bin Carlo dankbar für 2013 bis 2015 und auch 2021 bis 2023, wo er nochmal sehr viel aus einer Mannschaft im Umbruch herausgeholt hat, aber mittlerweile sind die jungen Spieler deutlich in der Überzahl und irgendwann brauchen wir aus meiner Sicht einen Trainer, der sie taktisch noch besser aufbauen und einbinden kann und ihnen Chancen gibt, auch mal Fehler machen zu dürfen. Carlo ist ein Trainer der alten Schule, der mit fertigen Spielern besser funktioniert. Das ist halt so und kein direkter Vorwurf an ihn, aber passt mittlerweile nicht mehr zum Kader, daher sollte nächsten Sommer definitiv Schluss sein. Und das Team muss irgendwann den eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende gehen und Mbappé oder eine Alternative verpflichten, und einen Nachfolger für Carvajal und den mittlerweile leider viel zu oft verletzten Mendy. Dieses Team hat definitiv Potenzial, ist aber noch nicht fertig umgebaut und entwickelt und mit so Aktionen wie Modrić gegen Atlético macht man sich das Leben oft selber unnötig schwer.
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