
Glaubt man der spanischen Sportpresse, ist eine Entlassung von Julen Lopetegui nur noch eine Frage der Zeit. Aufgrund des eng getakteten Spielplans und mangels “richtiger” Alternativen dürfe der Baske vorerst zwar noch im Amt bleiben, doch eigentlich könne nur noch ein Erfolg im Clásico am kommenden Sonntag den Job des spanischen Fußball-Lehrers retten, berichtet beispielsweise die MARCA. Dass sich Lopetegui trotz fünf siegloser Spiele in Serie mit nur einem einzigen Treffer und vier Niederlagen überhaupt noch an der Concha Espina halten kann, grenzt für viele Madridistas beinahe an ein Wunder. Viele Madrider Anhänger fordern ohnehin längst den Kopf des 52-jährigen Cheftrainers, der augenscheinlich für einen Großteil der Real-Fans die Hauptschuld an der Misere trägt. Doch macht man es sich mit diesem „Es läuft nicht, also muss der Trainer weg“-Reflex nicht deutlich zu einfach? Ist wirklich immer der Übungsleiter Schuld, wenn scheinbar nichts zusammenläuft?
Natürlich ist mir bewusst, dass die Uhren bei Real Madrid anders laufen als bei nahezu allen anderen Vereinen. Und ja, eine solche Negativserie, wie sie die Königlichen aktuell durchleben, sollte bei diesem Verein eigentlich nicht vorkommen. Aber wenn man die Situation etwas differenzierter betrachtet, sollte durchaus erkennbar sein, dass Lopetegui keineswegs der Hauptverantwortliche geschweige denn Alleinschuldige für die aktuelle Situation ist. Vielmehr kommt bei den Königlichen momentan eine ganze Menge zusammen, was den Negativstrudel der letzten Wochen erzeugt hat. Ein Erklärungsversuch.
Fülle an Verletzten konnte nicht kompensiert werden
Insbesondere die Niederlagen gegen Moskau (0:1) und Alavés (0:1) stießen vielen Fans zuletzt sauer auf. Weil das Team große Probleme offenbarte, sich klare Torchancen zu erspielen und im letzten Drittel zu statisch und leicht ausrechenbar wirkte, auf diese Weise leicht verteidigt werden konnte. Es mangelte vor allem an drei zentralen Dingen: Kreativität, Spielwitz und Durchschlagskraft. Dass dem so war, hatte aber auch seine Gründe: Mit Isco und Marcelo fielen die zwei zentralen Kreativspieler in Reals System aus, zudem fehlte mit Daniel Carvajal einer der besten Vorbereiter im Team, mit Bale überdies der vermeintlich neue Zielspieler.
Nun mögen viele behaupten, dass das für Real Madrid – insbesondere gegen vermeintlich kleine Gegner – eigentlich keine Ausrede sein dürfte. Möglicherweise ja, allerdings ist es selbst für ein Top-Team wie die Königlichen schwer zu kompensieren, wenn gleich vier zentrale Stützen mit enorm struktureller Bedeutung für das Spiel wegbrechen. Lopeteguis Spielstil benötigt sowohl strategische als auch kreative respektive geradlinige Spieltypen, um erfolgreich zu sein. Letztere standen in den letzten Partien schlichtweg nicht ausreichend zur Verfügung, dann tut sich auch ein Team mit der Qualität der Blancos schwer. Man möge mal bedenken, bei Barcelona würden auf einmal Lionel Messi, Jordi Alba, Luis Suárez und Coutinho wegbrechen. Ob das Spiel der Katalanen dann noch immer von offensiver Leichtigkeit geprägt wäre? Ich wage das zu bezweifeln. Zumal mir an dieser Stelle viele Leute schlichtweg die Qualität der spanischen Liga unterschätzen. Zinédine Zidane sprach nicht umsonst vom härtesten Wettbewerb, aufgrund der taktischen und technischen Möglichkeiten des Großteils der Teams in LaLiga kann man an einem durchschnittlichen Tag – die letzten drei bis fünf Teams der Liga möglicherweise ausgenommen – ganz schnell unter die Räder kommen. Diese Qualität in der Breite hat weder die Bundesliga noch die Premier League – und das bekommen sowohl Real als auch Barcelona wie Atlético immer wieder zu spüren.

Leistungsträger zwischen WM-Tief und mentaler Ermüdung
Apropos nicht funktionieren. Dass Raphaël Varane, Luka Modrić und Co. aktuell nicht ihre besten Momente durchlaufen, dürfte dem geneigten Real-Beobachter ebenfalls nicht entgangen sein. Ein Umstand, der in Anbetracht von lediglich drei Wochen Sommerpause aufgrund der WM und den zahlreichen (internationalen) Spielen in den letzten Jahren vielleicht auch einfach menschlich ist. Auch andere verdiente Akteure wie Toni Kroos, Karim Benzema oder Sergio Ramos wirkten in letzten Zeit überspielt und mental geplättet. Vielleicht muss man derartige Schwächephasen den Spielern nach diesen zuletzt erfolgreichen und körperlich wie mental extrem fordernden Jahren auch einmal zugestehen. Im Umkehrschluss sollte man von den jungen Spielern aber auch nicht sofort erwarten, dass sie jene Leistungsträger ohne Weiteres ersetzen können – auch hier kann Lopetegui keine Wunderdinge vollbringen. Geschweige denn die zuletzt gehäuft auftretenden individuellen Patzer, die einen Großteil der Niederlagen auslösten, selbst ausbügeln.
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Man wollte einen Umbruch – jetzt hat man einen Umbruch
Spätestens mit dem Ronaldo-Verkauf im Sommer sendete man bei Real ein deutliches Signal: Das Team durchläuft einen Umbruch. Dieses Team, das in den vergangenen fünf Jahren viermal die Champions League gewann und Fußballgeschichte schrieb, wird und muss sich verändern. Dass man für den wohl besten Spieler der Vereinsgeschichte und die Lebensversicherung der letzten Jahre keinen direkten Ersatz holte, war ebenfalls ein klares Zeichen: Wir wollen diese Vakanz intern lösen, jungen Spielern wie Marco Asensio oder Daniel Ceballos mehr Platz zum Reifen geben und Akteuren wie Gareth Bale oder Karim Benzema die Chance ermöglichen, zu Leadern aufzusteigen.
Man wollte einen Umbruch – jetzt hat man ihn, und zwar mit all den möglichen Höhen und Tiefen. Nach dem sehr guten Saisonstart (da hieß der Trainer übrigens auch Lopetegui) durchlaufen jene Spieler, die zu neuen Führungsfiguren aufsteigen sollen, nun also ein Tief. So etwas kann passieren – auch bei Real Madrid. Durch den Abgang Ronaldos hat sich nicht nur die Hierarchie innerhalb des Teams verschoben, auch der Spielstil hat sich enorm verändert. Dass von jetzt auf gleich der zentrale Zielspieler der letzten neun Jahre wegbricht, ist eine gravierende Veränderung – und sich auf diese einzustellen, benötigt Zeit. Genauso wie ein Asensio möglicherweise etwas Zeit benötigt, um in seiner ersten wirklichen Saison als Stammspieler zur benötigten Konstanz in seinem Spiel zu finden (an dieser Stelle sei beispielsweise an Neymars erste Saison in Barcelona erinnert). Und auch anderen jungen Akteuren wie Ceballos oder auch Álvaro Odriozola, die sich zuletzt gut entwickelten, sollte man ein gewisses Zeitfenster für die Akklimatisierung auf höchstem Niveau zugestehen.
Auch Lopetegui ist nicht fehlerlos
Natürlich ist auch der Trainer nicht von jeglicher Schuld freizusprechen. Das Sevilla-Spiel ging ganz klar auf die Kappe des Basken, auch gegen Moskau wirkten Auf- und Einstellung nicht gänzlich glücklich. Hinzu kommt die zunächst zu vorsichtige Rotation, die möglicherweise ebenfalls Einfluss auf die Verletztenmisere oder zu geringen, internen Konkurrenzkampf hatte. Vielleicht sind auch manche Personalentscheidungen der letzten Wochen zu überdenken, da die Form bei manchem Spieler zu wünschen übrig lässt. Aber ist es wirklich so verwerflich, wenn ein neuer Trainer bei Real Madrid, der sich auch erst einmal eine gewissen Reputation erarbeiten muss, zunächst auf vermeintlich Bewährtes setzt?
Man sollte Lopetegui Zeit und Geduld geben
Man hat sich bei Real im Sommer mit der eingeschlagenen Transfer- und Kaderpolitik sowie der Verpflichtung von Lopetegui für einen bestimmten Weg entschieden – nun sollten die Verantwortlichen in meinen Augen auch die Courage besitzen, diesen Weg mit all seinen Höhen und Tiefen mitzugehen. Dass es das Team und auch Lopetegui anders können, haben sie in dieser Spielzeit bereits bewiesen. Vor allem hat die Partie gegen Levante trotz der Niederlage auch gezeigt, dass dieses Team noch lebt. Zudem scheint Lopetegui innerhalb der Mannschaft große Rückendeckung zu genießen, die Spieler von seinen Ideen angetan. Das ist bei Real Madrid keine allzu schlechte Basis. Langfristiger Erfolg benötigt manchmal auch einfach Zeit und Geduld. Und diese sollte man Lopetegui in Anbetracht der zuvor aufgeführten Umstände noch gewähren. Es liegt nicht immer nur am Trainer.
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