
Es wäre maßlos übertrieben, einen 18-Jährigen als Heilsbringer zu bezeichnen. Als jemanden, der sozusagen auf Knopfdruck in die Fußstapfen eines fünfmaligen Weltfußballers wie Cristiano Ronaldo treten könnte. Ich würde aber lügen, wenn ich behaupten würde, Vinícius Júnior habe mich während der Saisonvorbereitung nicht verzückt. Der 45 Millionen Euro schwere Neuzugang von Flamengo Rio de Janeiro verlieh dem Spiel der Königlichen einen Hauch von neuer Frische und neuer Kreativität. Mit seinen fintenreichen Dribblings sorgte er für Überraschungsmomente, außerdem erwies er sich als uneigennütziger Vorlagengeber. Von brotloser Kunst konnte in den Testspielen gegen Manchester United, Juventus Turin, AS Rom und AC Mailand jedenfalls keine Rede sein.
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Allerdings bin ich auch nicht Julen Lopetegui. Und sehe Vinícius nicht jeden Tag trainieren. Ich sehe vor allem nicht, wie gut er defensiv arbeitet. Es ist daher vollkommen legitim, noch nicht fest mit ihm zu planen. Vinícius kommt von einem anderen Kontinent und braucht unabhängig von seiner sündhaft hohen Ablösesumme einfach Zeit, um als Fußballer und als Mensch zu reifen. Aber bitte nicht in der zweiten Mannschaft! Real-Direktor Emilio Butragueño erklärte nach dem 4:1-Sieg gegen den FC Girona am Sonntag: „Vinícius trainiert bei unseren Profis und spielt vornehmlich bei unserer Castilla. Julen entscheidet, ob er ihn ab und zu für Profispiele nominiert. Wir mischen uns da nicht ein.“
Ein riskanter Plan. Ein Plan, der aus meiner Sicht zum Scheitern verurteilt ist. Wie soll Vinícius denn in einem Team glänzen, mit dem er überhaupt nicht trainiert? Er kann weder Kombinationen mit seinen Castilla-Kollegen einstudieren noch deren Laufwege kennen lernen, indem er mit Karim Benzema, Gareth Bale und Luka Modrić arbeitet. Hinzu kommt: Zwischen den Profis und der Castilla liegen aus sportlicher Sicht mittlerweile Welten. Vor fünf Jahren, als die B-Mannschaft noch in der Segunda División spielte und sich Talente wie Dani Carvajal, Álvaro Morata oder Jesé Rodríguez weiterentwickeln konnten, wäre ein solches Experiment angebracht gewesen. Jetzt aber ist die Zweitvertretung in der dritten Liga beheimatet. Das Niveau der Segunda B wird das der ersten brasilianischen Liga kaum übertreffen, in der Vinícius bis zuletzt noch spielte. Der Youngster macht keinen Fortschritt. Eher im Gegenteil. Er droht zu stagnieren, weil er zwischen zwei Stühlen steht. Martin Ødegaard kann ein Lied davon singen. Der Norweger avancierte in Madrid vom Hoffnungsträger zum Außenstehenden. Heute spielt er bei Vitesse Arnheim in der niederländischen Eredivisie.
Reals Bosse müssen ihren Plan mit Vinícius überdenken. Warum “parken” sie ihn nicht innerhalb Spaniens bei einem ambitionierten Zweitligisten oder einen kleineren Erstligisten? Marco Asensio zum Beispiel entwickelte sich bei RCD Mallorca und Espanyol Barcelona prächtig, ehe er nach Madrid kam. Eine weitere Alternative wäre, Vinícius an einen bekannten portugiesischen Ausbildungsverein wie den FC Porto oder Benfica Lissabon zu verleihen. Dort müsste er nicht einmal sofort eine neue Sprache erlernen, zumal die Primeira Liga gerade für südamerikanische Talente als ideales Sprungbrett gilt. Auch Vinícius’ Landsmann Casemiro ging diesen Weg. Das sollte Lopetegui bewusst sein. Er formte Casemiro schließlich einst in Porto zu einem Spitzenprofi.
Der Real-Coach will sich mit Vinícius’ Verbleib offensichtlich eine Hintertür für “schlechte Zeiten” offen lassen. Er weiß, dass seine Offensive nach dem Ronaldo-Abgang dünn bestückt ist. Benzema, Bale und Asensio sind gesetzt, doch als Alternativen stehen lediglich Borja Mayoral und Lucas Vázquez bereit. Der Verein will noch keinen neuen Superstar verpflichten – wohl auch, weil Florentino Pérez’ teurer Wunschkandidat Neymar zumindest in diesem Sommer abgesagt hat. Soll heißen: Vinícius könnte als Notnagel in den Profikader rutschen, wenn sich ein Real-Angreifer mal verletzt oder gesperrt wird. Das ist schade. Schade um die 45 Millionen Euro. Vor allem aber schade um sein großes Talent.
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