
Vom siebten Himmel auf dem harten Boden aufgekommen
MADRID. „Ich hoffe, dass 2016 ein gutes Jahr wird, denn die geraden Jahre liegen uns“, meinte Emilio Butragueño am Mittwochabend nach dem 3:1-Sieg gegen Real Sociedad. Mehr sagte der frühere Torjäger und heutige Funktionär nicht, als er mit den zurückliegenden zwölf Monaten konfrontiert wurde. Er konnte auch nicht anders, als den Blick Richtung Zukunft zu richten. Denn über die junge Vergangenheit gibt es schlichtweg nichts zu berichten, worauf dieser weltberühmte Verein aus Spaniens Hauptstadt stolz wäre.
Schwebte das selbsternannte Nonplusultra der Fußball-Geschichte vor gerade einmal einem Jahr noch im siebten Himmel, ist der Klub inzwischen längst auf dem harten Boden aufgekommen. Dort also, wo er nach eigenem Ermessen nicht hingehört. Nie. Real Madrid, das bedeutet historisch betrachtet Erfolg, Spektakel, Glanz und Gloria. All das bekam man 2015 allerdings nicht zu sehen. Ein Jahr des Versagens. Ein Jahr zum Vergessen.
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Schafften es die Stars um Cristiano Ronaldo, 2014 mit den gewonnenen Trophäen in Copa del Rey, UEFA Champions League, UEFA Super Cup und FIFA Klub-WM noch zum besten in der Historie des seit 1902 bestehenden Vereins zu machen, blicken sie heuer in die Röhre. Zehn Niederlagen und neun Remis sorgten neben den 36 Siegen dafür, dass es nichts zu feiern gibt. Kein Titel und demnach kein Anlass, in dieser Silvester-Nacht auf das Geschehene anzustoßen. „Es wäre ein Traum, wenn 2015 noch besser werden würde“, sagte Ronaldo zum Ende des vergangenen Jahres. Es war ein Traum. Mehr nicht.
Ronaldo-Party nach 0:4-Schmach gegen Atlético
Das Unheil, es begann bereits im Januar und zog sich schließlich wie ein roter Faden durch die nächsten Monate. Erst riss in Valencia die sensationelle Serie von 22 Erfolgen, dann musste sich das weiße Ballett im Pokal schon im Achtelfinale geschlagen geben (0:2, 2:2) – ausgerechnet gegen Stadtrivale Atlético, der dem Team von Carlo Ancelotti drei Wochen später bereits das nächste blaue Auge verpassen sollte. 0:4-Debakel im Estadio Vicente Calderón! Zu allem Überfluss fand am Abend von jenem 7. Februar auch noch die geplante Feier zum 30. Geburtstag von CR7 statt, was noch mehr negative Schlagzeilen in der spanischen Presse und Unmut bei der Anhängerschaft nach sich zog.

Im März brannte der Baum schließlich wieder. Spricht man bei anderen Klubs erst dann von einer Krise, wenn mindestens eine Handvoll Spiele verloren wurden, reichen bei den Merengues ein Unentschieden und zwei Niederlagen gegen Athletic Bilbao, den FC Villarreal und Schalke 04 längst aus. An der Concha Espina sind die Maßstäbe eben andere. Auf die Barrikaden gingen die Madridistas insbesondere, als sich die Akteure in der Königsklasse gegen die „Königsblauen“ blamabel verkauften, im Estadio Santiago Bernabéu mit 3:4 verloren und bei einem weiteren Gegentreffer erneut im Achtelfinale Schluss gewesen wäre.
Als die Sportzeitung MARCA daraufhin titelte, Ancelotti werde im Falle eines zusätzlichen Debakels wenige Tage später gegen den FC Barcelona entlassen, trat Präsident Florentino Pérez vor die Presse, wies die Meldung entschieden zurück und stärkte seinem Trainer den Rücken. Es war ein Bekenntnis, das nur für den Moment galt, wie sich im Mai herausstellte.
Nach titellosem Frühling: „Carletto“ geht, Benítez kommt
Eine 1:2-Niederlage im Clásico und ein 2:2 gegen Valencia führten endgültig dazu, dass der Madridismo einen weiteren Frühling ohne den Gewinn des Liga-Titels erlebte, eine 1:2-Pleite und ein 1:1-Remis im Halbfinale gegen Juventus Turin dazu, dass der Traum von der europäischen Titelverteidigung platzte. Hier ein Ziel verpasst, da ein Ziel verpasst. Die Konsequenz: Ancelotti musste gehen. Auf den Tag genau ein Jahr, nachdem der sympathische Italiener bei der „Décima“-Party im Bernabéu die Hymne „Hala Madrid y nada más“ sang und von einem neuen Zyklus sprach, erhielt er das Kündigungsschreiben – zum Ärger der Fans und der Mannschaft, die sich öffentlich für einen Verbleib stark machten.

Pérez begründete die Veränderung an der Seitenlinie als eine dringende Notwendigkeit. Das Team brauche einen neuen Impuls, weshalb Rafael Benítez vom SSC Neapel nach Madrid gelotst wurde. Neun Tage nach dem Aus von Ancelotti stellte der Verein den gebürtigen Madrilenen, der emotional die eine oder andere Träne vergoss, vor. „Es hat mich bewegt, denn es sind viele Jahre der Arbeit und zu Real Madrid zurückzukehren, um die erste Mannschaft zu trainieren, ist eine große Befriedigung. Als mir mein Berater von der Möglichkeit erzählte, war ich der glücklichste Mensch der Welt“, meinte Benítez.

Der große Abschied: „San Iker“ verlässt Herzensklub
Ob Iker Casillas das am 12. Juli auch gewesen ist? Es war der Tag, an dem offiziell wurde: Der legendäre Torhüter kehrt Real nach insgesamt 25 Jahren den Rücken und wechselt zum FC Porto. Nachdem der Kapitän das Fan-Lager seit dem Ende Ära José Mourinho spaltete und seinen Platz zwischen den Pfosten zwischenzeitlich verlor, bevorzugte er es, den Herbst seiner Karriere in einer ruhigeren Umgebung zu verbringen und nicht mehr unter ständig kritischer Beobachtung zu stehen. Sein Abschied: tränenreich. Allein schritt er am Tag nach dem Bekanntwerden des Weggangs in den Pressesaal, wurde emotional und sagte dem Klub seines Lebens „adiós“. Wiederum einen Tag später folgte schließlich auf dem Rasen des Bernabéu-Stadions ein weiterer Abschied in Gegenwart Tausender Anhänger. Dann war es wirklich vorbei, das Kapitel Real Madrid.
Um kurz nach 12 Uhr schritt Iker Casillas in den gut besuchten Pressesaal.
Er setzte sich, wurde von zahlreichen Fotografen umlagert und tat sich anschließend schwer, Worte zu finden.
Ein Durchatmen nach dem anderen, vernünftige Sätze kamen jedoch nicht zustande. Casillas überkamen die Emotionen.
Die ersten Tränen flossen. Casillas sinnbidlich: „Das ist eigentlich eine Rede, die 30 Sekunden dauert. Doch es wird eine Stunde dauern.“
„Nach 25 Jahren, die ich das Wappen des besten Klubs der Welt verteidigt habe, kommt der schwierige Tag, um dieser Institution, die mir alle gegeben hat, ‚Tschüss‘ zu sagen.“
„San Iker“ konnte sich fangen, begann mit seiner Rede.
Der Kapitän: „Unabhängig davon, ob ich ein guter oder schlechter Torwart war, hoffe ich, dass man sich an mich als gute Person erinnert. Ich werde euch nie vergessen können und dorthin, wo ich gehe, werde ich weiterhin ‚Hala Madrid‘ rufen.“
Die spanische Nummer eins trug das Trikot der Merengues zwischen 1999 und 2015 725 Mal. 16 Pflichtspiele fehlten ihm, um mit Raúl als Akteur mit den meisten Einsätzen für den Klub gleichzuziehen.
Für David de Gea sollte es fortan beginnen. Über mehrere Wochen bestimmten Gerüchte um einen Transfer von Manchester United zu den Merengues die Schlagzeilen der Medien, der letztlich auch konkret wurde. Die Klubs einigten sich auf einen De-Gea-Deal, in den Keylor Navas integriert wurde. Der Costa-Ricaner sollte Real im Gegenzug nach nur einem Jahr schon wieder verlassen und ins Old Trafford wechseln.
Transfer-Irrsinn: Torwart-Deal mit United platzt
Weil entscheidende Dokumente am letzten Transfer-Tag jedoch erst nach Fristende beim spanischen Liga-Verband eintrafen, platzte das Geschäft. Die Vereine wiesen sich gegenseitig die Schuld zu. Zur Lachnummer verkam aber in erster Linie Real, das mit Navas einen Keeper behalten musste, der offensichtlich nicht die erste Wahl war. Fehlendes Vertrauen – und dennoch präsentierte sich dieser infolgedessen in bestechender Form. Fünf Liga-Partien in Serie hielt er seinen Kasten sauber. Ebenso erfreulich: Nach einem ebenso langem Hickhack verlängerte Neu-Kapitän Sergio Ramos seinen Vertrag bis 2020.

Rekordtorjäger: Ronaldo löst Raúl ab
Groß war der Jubel auch Ende September, als Ronaldo eines seiner großen Ziele endlich erreichte. Nachdem der Portugiese zu Beginn des Jahres zum dritten Mal in seiner Karriere den FIFA Ballon d’Or einheimste, löste er Raúl González Blanco Anfang Herbst als bester Torjäger in der Geschichte der Königlichen ab! Während „el Capitán“ für den Rekord-Wert von 323 Treffern 16 Spielzeiten benötigte, brach CR7 ihn schon in seiner siebten Saison. Wahnsinn! Pérez lobpreiste seinen Superstar: „Wir sind so groß, weil wir Spieler wie Cristiano Ronaldo in unseren Reihen haben. Er übertraf Mythen wie Raúl und Alfredo Di Stéfano. Lieber Cristiano, der Madridismo liebt dich, weil er weiß, was du unserem Klub gibst. Du bist auf und neben dem Rasen ein Vorbild. Du bist eine Legende Real Madrids.“

Und er ist eine Legende des Fußballs. Als solche erschien Ronaldo im November sogar auf der Kino-Leinwand. Der 130-minütige Dokumentar-Film zeigt, wie der populärste Fußballer der letzten Dekade privat tickt und wirklich lebt. Als der Rote Teppich ausgerollt wurde, musste sich der Goalgetter jedoch auch Kritik gefallen lassen. Er solle sich mehr auf seinen Beruf konzentrieren, lautete der Tenor unzufriedener Anhänger. Schwach trat allerdings nicht einzig CR7, sondern das Kollektiv im Herbst auf – auch bedingt durch verletzungsbedingte Ausfälle von Leistungsträgern wie Gareth Bale, Sergio Ramos, Daniel Carvajal, James Rodríguez oder Karim Benzema.
Letzteren erwischte es besonders hart. Gemeint ist damit aber nicht unbedingt die Verletzung. Am 3. November die Meldung aus dem Nichts: Benzema in Paris in Polizei-Gewahrsam. Weil der Stürmer-Star in eine Sex-Tape-Erpressung gegen Mathieu Valbuena verwickelt ist, wird gegen ihn ermittelt. Schlimmstenfalls droht eine fünfjährige Gefängnisstrafe. Der französische Verband reagierte und suspendierte Benzema einige wenige Monate vor der EM im eigenen Land vorerst aus der Nationalmannschaft.
Was die Königlichen erreichten wollten, erreichte Barça
Der November sollte für Real ein schwarzer bleiben. Samstag, der 21.: Clásico im Bernabéu. 0:4-Debakel. Real fand gegen den Erzrivalen aus Katalonien keine Mittel, ging unter, blamierte sich. Den Fans platzte allmählich der Kragen, hämisch gab es zum Abpfiff ein Taschentuch-Schwenken mit weißen Transparenten, die zum Einlauf noch die große Choreographie bildeten. Dazu Sprechchöre in Richtung Pérez und Benítez, die doch beide bitte schnellstens ihre Posten räumen mögen. Getan hat sich nichts – trotz eines Sechs-Punkte-Rückstands auf den Titel-Kontrahenten. Im Anschluss an die Katastrophe betrat „Floren“ auf einer anberaumten Pressekonferenz das Podium und stellte sich demonstrativ hinter seinen Coach. Wie damals bei Ancelotti. Ob es erneut Worte für den Moment gewesen sind, wird sich noch zeigen.

Fest steht: Die Anzahl an Madridistas, die fordert, dass Köpfe rollen, wurde und wird wahrlich nicht geringer. Aufgrund des wenig ansehnlichen Spielstils und uninspirierten Auftritten ohne Engagement und Leidenschaft hätten viele Fans Benítez am liebsten schon längst auf den Mond geschossen. Erst recht, als es Real Anfang Dezember auf die Spitze trieb und sich zum wiederholten Male lächerlich machte. Da Denis Cheryshev trotz einer gültigen Gelbsperre beim Hinspiel der ersten Copa-del-Rey-Runde in Cádiz auflief, wurde das Team vom Wettbewerb disqualifiziert und jede Klage abgewiesen. Etwas, das ins Bild dieses Jahres passt. In ein Jahr, das miserabler nicht hätte laufen können. Was die Königlichen 2015 erreichten wollten, erreichte Barça. Zu allem Überfluss auch das noch. Die einzig positive Nachricht zum Ende dieses Jahres: Es kann nur besser werden.
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