Kommentar

Zeit für eine Wutrede

Es fühlt sich an wie die schlechteste Saison seit Ewigkeiten – bis zum vom weißen Kragen umschmiegten Hals steckt Real Madrid in der Krise. Zinédine Zidane findet, er sei schuld, ist aber immer noch zufrieden mit seinem Kader und will „mehr arbeiten“ und dann vermutlich „noch mehr arbeiten“ und die Fans, die fordern weiterhin wild Transfers. Nur manchmal hilft nichts als eine wuchtige Motivationsrede. So eine Rede, bei der man aus der Stille ein Origamifalten könnte. Ja, eine Rede, in der leicht schiefe Metaphern benutzt werden, und während deren letzter pathostriefender Worte sich die Tapete von den Wänden der Kabine löst und zu Boden sinkt. Kolumnist Julian Heun sitzt – wie viele Fans – jedes Wochenende vor dem Fernseher und beschreit und beflüstert die Helden am Bildschirm, versucht sie anzuweisen und aufzupeitschen, auch wenn es nichts bringt. Hier hat er einfach mal mitgeschrieben, was er ihnen sagen würde. Mögen seine Worte zum Fußballgott und an die Ohren der Spieler dringen, in ihre Köpfe hinein und mit ihren Füßen auf den Platz geschrieben werden. Wie immer komplett subjektiv und fiktiv, herzlich und herrlich.

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Klartext für CR7 und Co. von Kolumnist Julian Heun – Foto: Gonzalo Arroyo Moreno/Getty Images

Jungs! Ich versetze meine Freundin jedes Wochenende für zwei Stunden und mehr, weil ich nach dem Spiel oft nicht ansprechbar bin. Ich zahle monatlich Geld für einen Streaminganbieter, der nur ein Drittel in der Auflösung bringen kann, die er verspricht. Ich kaufe mir alle vier Monate eine neue Fernbedienung, weil die alte an der Wand zerschellt und zu einem Haufen Elektroschrott zu Boden gerieselt ist. Und ich kaufe dieses Trikot, das keine Mittelmäßigkeit toleriert, dieses Trikot, für das ich viel zu viel zahle, obwohl es eigentlich billiger Stoff ist, zusammengenäht von einer Firma mit bedenklichen Produktionsbedingungen. Dieses Trikot ist an sich wenig wert. Es bekommt seinen Wert nur durch den Geist von Real Madrid. Und dieser wird nur zum Leben erweckt in eurem Spiel. Ihr merkt: Es ist mir also ernst mit euch. Ich will nicht viel zurück, aber ein bisschen. Und diese Saison habe ich nichts bekomen. Außer drei kleinen Titeln gar nichts!

Ganz ehrlich, ich bin froh, dass ihr das Spiel gegen Leganés verloren habt. Ich bin froh, dass es mal richtig knallt. Das ist ein Warnschuss. Aber nicht der erste. Ehrlich gesagt, lauft ihr durch einen Kugelhagel von Warnschüssen und tut so, als sei das nur Pech. Ihr seid nicht die beste Mannschaft der Welt. Und zwar, weil es keine beste Mannschaft der Welt gibt. Die beste Mannschaft der Welt kann man nicht sein, nur werden. Die beste Mannschaft der Welt ist ein fragiler Zustand, den man für kurze, vergängliche Momente innehaben kann, aber nicht mit in die Kabine nimmt, ungreifbar wie ein Schneeregen oder eine verdammte Snapchatnachricht oder die Zeiträume, in denen Gareth nicht verletzt ist.

111 Gründe, Real Madrid zu lieben

Gareth, setzt dich wieder hin! Sonst schnipse ich dir gegen deinen Schollenmuskel! Bale setzt sich angsterfüllt hin. Ihr seid ein bewundernswerter Kader. Zwar keiner, mit dem man LaLiga und die Champions League verteidigt, aber einer, mit dem man – bis auf ein paar Details – in zwei Jahren die Weltspitze kaum einnehmbar beherrschen könnte. Das geht aber nur, wenn ihr ihn nicht vorher zu Grunde richtet. Zidane hat zum Beispiel dich, Borja, gleichwertig an die Stelle von Álvaro Morata und Mariano gesetzt. Dann zahl ihm dieses Vertrauen gottverdammt zurück! Die beiden hätten die Abwehr von Leganés auch nicht geknackt. Sie hätten sie mit dem Brecheisen zertrümmert, bis der Ball mit egal welchem Körperteil über die Linie trudelt. Natürlich! Morata und James haben mit ihren Stammplatzwünschen Unruhe gebracht, aber das, was ich als Mannschaftsspirit jetzt sehe, ist keine Ruhe. Das ist ein Koma. Das ist peinlich. Peinlicher als das Video, in dem sich Dani Alves als Frau verkleidet hat, um sich selbst aufzumuntern. Und nichts gegen Männer, die sich als Frauen verkleiden. Und nichts gegen Dani Alves. Obwohl. Doch! Aber das gehört nicht hier hin.

Marcelo! Hör auf, Handstand zu machen, wenn ich mit dir rede! Was du gegen Deportivo zeigtest, war genau das, was es braucht. Auf den Platz gehen mit Boss-Aura, Kapitäns-Aura. Ramos-Modus! Auch mal im Strafraum ins Eins-gegen-eins und das Stückchen Willen mehr als der Gegner aufbringen. Aber wenn ich – sobald es brenzlich wird – noch einmal diese uninspirierten Flanken sehe, wie gegen Leganés, dann möge dir Roberto Carlos persönlich Vollspann ins Gesicht scheppern. Es kann doch nicht sein, dass eine technisch derart versierte Mannschaft so wenig aufzubringen weiß. Diese traurigen Flanken! Achraf und Theo versuchen sich verzweifelt im eigenen Spind zu verstecken. Cristiano, meinetwegen kannst du neben der Unterhosen- noch eine Selfiestick-Kollektion herausbringen und auf dem Segway zum Spiel kommen, solange du weniger haderst und wieder triffst. Aber das wirst du. Marco, wo zur Hölle ist der Spieler, der gegen Bayern, Juve und Barça nicht viele Chancen brauchte? Ich könnte schwören, er sah genauso aus wie du. Aber dein Spiel erinnert nicht mal entfernt an ihn. Toni, geh auch mal die Meter mit zurück, wenn es nötig ist, zwing den überspielten Körper in den Sprint, mach halt die Tore, wenn die anderen es nicht schaffen. Du weißt, wenn du in Top-Form bist, sind es auch die anderen. Dann vergisst Gareth sich zu verletzen, spreizt seine Gargoyle-Flügel und fliegt einfach allen davon. Und wenn man eins kassiert, dann halt Brechstange, Willenssiege. Dann versucht halt Modrić ‘n Kopfball und Nacho schießt weiter aus der Drehung Tore. Dann ist halt mal das Trikot blutig. Aber im Handy vom Teamarzt kannst du dann immerhin noch in dein eigenes Gesicht sehen und nicht das eines vergilbten Bravo-Sport-Posters der War-ein-mal-Weltelf. Zizou, mein galaktischer Sohn mit dem kantigen Kopf, du demontierst deine eigene Legende, du baust deine eigene Statue Stück für Stück selbst ab. Aber noch steht die Statue und die Legende. Wir reden noch mal unter vier Augen. Das müssen nicht alle hören, aber es gibt viel zu besprechen. Vor allem, dass wir einen Stürmer brauchen und dass wir einen Stürmer brauchen und das mit dem Stürmer wäre auch wichtig.

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Ich will nicht sagen, dass ab jetzt jedes Spiel ein Endspiel ist, aber ab jetzt ist jedes Spiel ein Endspiel. Und zwar eines in der Verlängerung. Denn wenn ihr noch irgendeinen Gegner nicht ernst nehmt, dann seid ihr schneller als ihr glaubt auf einem Europa-League-Platz. Und dann gehen im Sommer mehr Spieler, als ihr glaubt. Karim, du kannst dich entspannen. Florentino hat in seiner Schublade schon deinen Vertrag bis 2050. Leider. Aber für den Rest nicht. Und vor allem nicht für Zidane. Die Mannschaft hat galaktisches Potential und die Möglichkeit zur absoluten Legende zu werden mit einem Trainer, dessen Geschichte man schon fast gar nicht erzählen kann, weil sie so besonders ist. Lasst diesen Traum wahr werden. Seid nimmersatt, seid gierig!

Sie könnten jetzt sagen: Julian, halt dein Maul. Wir sind Zinédine Zidane, Cristiano Ronaldo und Toni Kroos. Und der Zwillingsbruder von Marco Asensio. Wir sind Fußballgötter und wer bist du? Richtig. Ich bin nur jemand, der euch begafft, besingt und beschrei(b)t. Jemand, der eure Trikots kauft und darauf wieder stolz sein will. Y nada más.

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von
Julian Heun

Julian Heun ist Poetry Slammer und Autor. Und: Madridista! Aus Berlin kommend, schreibt er bei REAL TOTAL, was den Madridismo beschäftigt und ihm Tränen bereitet – gute wie schlechte. Eine Kolumne über die Königlichen: HEUN TOTAL.

Kommentare
Zauberhaft! Gerne mehr davon!! :)
 
Klasse! :)
 
Ich will nicht sagen, dass ab jetzt jedes Spiel ein Endspiel ist, aber ab jetzt ist jedes Spiel ein Endspiel.
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