
Solari haucht Real wieder neues Leben ein
MADRID. Geschichte hat Santiago Solari bereits geschrieben: Mit vier Siegen aus den ersten vier Spielen bei einem Torverhältnis von 15:2 gelang dem Argentinier der beste Start eines Trainers in der Geschichte Real Madrids überhaupt. Dass der zunächst als Interimslösung eingesetzte 42-Jährige in Folge dieser Erfolgsserie nun offiziell zum neuen Chefcoach der Königlichen ernannt wurde, war letzten Endes keine große Überraschung mehr. Und auch wenn die Gegner auf dem Weg zu jenem historischen Auftakt „nur“ auf die Namen Melilla, Valladolid, Pilsen und Celta Vigo hörten, verdient die Leistung Solaris doch ein gewisses Maß an Anerkennung.
Dem früheren Profi der Blancos ist es gelungen, einem Team, das unter Vorgänger Julen Lopetegui nach einem starken Saisonstart in eine unheimliche Negativdynamik geraten war und zuletzt erschreckend leblos agierte, wieder neues Leben einzuhauchen. Langsam aber sicher scheinen das verloren gegangene Selbstverständnis und Selbstvertrauen rund um das Estadio Santiago Bernabéu wieder zurückzukehren. Und viel mehr noch: Solari hat an der Concha Espina die Hoffnung geweckt, dass die Mannschaft unter seiner Ägide einen ähnlichen Weg einschlagen kann wie unter einem gewissen Zinédine Zidane. Dies mag in Anbetracht von „Zizous“ unglaublichen Erfolgen in der jüngsten Vergangenheit fast ein bisschen vermessen klingen, doch gibt es einige Indizien, die dafür sprechen, dass Solari in der aktuellen Situation tatsächlich genau der richtige Mann sein könnte, um diese scheinbar aussichtslose Saison zu einem mehr als versöhnlichen Ende zu führen.
Der Zuarbeiter für die Stars und das Jahrhunderttor
Eine große Rolle, warum dem so ist, nimmt dabei Solaris Karriere als Spieler ein. „Indiecito“, der kleine Indianer, kann – wie Zidane auch – auf eine erfolgreiche Vergangenheit im weißen Trikot zurückblicken, welches er von 2000 bis 2005 trug und in dem er unter anderem 2002 gemeinsam mit „Zizou“ „la Novena“ gewann, den neunten Europapokal-Titel. Und wie es der Zufall so will, war ausgerechnet Solari an der Entstehung des legendären siegbedeutenden Volleys von Zidane zum 2:1 über Bayer Leverkussen entscheidend beteiligt, als er Roberto Carlos mit einem Steilpass die linke Außenbahn entlang schickte, woraufhin der Brasilianer per Flanke das Jahrhunderttor seines Kollegen einleitete.
Ohne Frage handelt es sich hierbei um einen der schillerndsten und größten Momente in Real Madrids langer Geschichte. Solari nimmt dabei eine wichtige Rolle ein, im Mittelpunkt stehen aber dennoch andere. Eine Szene, die eigentlich symptomatisch für das Wirken des Argentiniers bei den Blancos steht. 2000 von Stadtrivale Atlético an die Concha Espina gewechselt, agierte der flexibel einsetzbare Linksaußen zumeist als Zuarbeiter für die “Galácticos” um Luis Figo, Zidane und Co. Für einen unumstrittenen Stammplatz langte es nie so ganz, dennoch war die frühere Nummer 21 als zwölfter Mann eigentlich unverzichtbar. Wenn Solari, dessen Cousin übrigens niemand Geringeres als Fernando Redondo ist, gebraucht wurde, war er zur Stelle – und lieferte.
Dennoch war der Argentinier in der Führungsetage lange Zeit nicht unumstritten. Ex-Sportdirektor Jorge Valdano erklärte sogar jüngst, seinem “einzigen Auswechselspieler von Format” immer wieder einen Abgang nahegelegt zu haben. Valdano bezeichnete dabei zwar finanzielle Gründe als ausschlaggebend, doch waren die Motive dahinter wohl andere: Das Real Madrid dieser Tage bestand aus zwei Gruppen, den sogenannten „Zidanes y Pavones“, also die Galaktischen (Zidanes) auf der einen sowie die spanischen jungen Talente rund um Eigengewächs Francisco Pavón auf der anderen Seite. Solari gehörte damals zu keiner dieser Gruppen und hatte deshalb einen schweren Stand, doch der damalige Fan-Liebling konnte sich bis zu seinem Abgang 2005 immer wieder erfolgreich behaupten. Weil viele Anhänger in ihm eine Vielzahl der Werte verkörpert sahen, die dem Real Madrid dieser Tage verloren gegangen schienen: Einsatz, Leidenschaft und absolute Hingabe für das Trikot.
Eloquent, intelligent, gebildet
Als Trainer der Blancos könnte Solari nun genau dieser Umstand, damals mehr oder weniger zwischen den Fronten gestanden zu haben, enorm weiterhelfen. Schließlich weist der aktuelle Kader mittlerweile eine ähnliche Struktur zu dem der “Galácticos” auf, mit den hochdekorierten Seriensiegern in der Champions League um Sergio Ramos, Luka Modrić und Co. auf der einen, und die jungen Wilden um Daniel Ceballos und Sergio Reguilón auf der anderen Seite. Solari weiß aus seiner aktiven Laufbahn, wie die unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Umkleide ticken. Möglicherweise ist er genau der Richtige, um die aktuelle Situation, die auch einen langsamen aber stetigen Umbruch beinhaltet, entsprechend zu moderieren.
Bislang scheint der Argentinier den Nerv voll zu treffen. Solari ist ein Mann der klaren Worte, weiß sich eloquent aber gleichzeitig auch bestimmt auszudrücken und ist aufgrund seines zuvorkommenden Auftretens ein sehr angenehmer Gesprächspartner. Mit Journalisten weiß er zu scherzen, und auch Fans hatten nach seinen bisherigen Pressekonferenzen stets ein positives Gefühl. All das kommt an bei den Spielern – und führt augenscheinlich dazu, dass die Profis auch wieder jene Prozente bereit sind, aus sich herauszuholen, die am Ende unter Lopetegui gefehlt haben. Den früheren Linksaußen jedoch alleine auf seine menschlichen Qualitäten im Umgang mit den Spielern zu beschränken, würde ihm – ähnlich wie Zidane während seiner Zeit an der Seitenlinie – allerdings nur bedingt gerecht werden.
Eine anschauliche Kostprobe seines enormen Spielverständnisses bilden dabei seine Gastkolumnen für die spanische Zeitung EL PAÍS, in denen er sehr ausführlich und darüber hinaus sprachlich äußerst ansprechend tolle Analysen produzierte. Und die jüngste Vergangenheit hat eines deutlich gezeigt: Die Königlichen benötigen nicht zwangsläufig einen gewieften Takiker wie Lopetegui oder – in der Prä-Zidane-Zeit – Rafael Benítez, nein, die Blancos benötigen vielmehr einen charismatischen Anführer, der die Sprache der Spieler spricht und vor allem durch situatives In-Game-Coaching die Qualitäten der Einzelspieler zielgerichtet einzusetzen vermag. Ein Profil, das auf den als sehr belesen und gebildet geltenden Solari (Lieblingsschriftsteller: Jorge Luis Borges) wie maßgeschneidert erscheint.

Schleifer und Ausbilder
Kritiker mögen nun einwerfen, dass der 42-Jährige, als dessen Trainer-Vorbild der großartige Vicente del Bosque gilt, in seinen knapp zwei Jahren bei der Castilla nur phasenweise überzeugte und Gerüchten zufolge zeitweise sogar kurz vor Rauswurf stand. An dieser Stelle sollte jedoch nicht unterschlagen werden, dass auch Zidane als Verantwortlicher der zweiten Mannschaft selten glänzte. Der Job als Trainer der Zweitvertretung ist in gewissem Maße immer ein wenig undankbar, schließlich verändert der Kader jedes Jahr aufs Neue sein Gesicht erheblich. Zudem sind die Duelle mit überwiegend abgeklärten und physisch robusteren Drittliga-Profis für die Jungspunde der Blancos, die oftmals erst ihre erste Saison im Herrenbereich absolvieren, bisweilen noch etwas unausgeglichen. Ein für Reserve-Mannschaften völlig normales Phänomen. Zumal Solari seinen eigentlichen Kernauftrag, nämlich das Ausbilden für und Heranführen ausgewählter Spieler an den Profibereich vollends zufriedenstellend erfüllte. Mit Federico Valverde und Sergio Reguilón spielen zwei seiner ehemaligen Schützlinge mittlerweile sogar in der ersten Mannschaft, Achraf Hakimi (Dortmund), Mario Hermoso (Espanyol) oder Óscar Rodríguez (Leganés) sorgen aktuell anderweitig für Furore.
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Überhaupt war Solari während seiner Zeit als Jugendtrainer bei den Königlichen insgesamt sehr erfolgreich: Mit der Cadete B (U15) holte er sich 2013 ebenso wie mit der Cadete A (U16) ein Jahr später den Meistertitel, als Trainer der Juvenil B (U18) und Juvenil A (U19) legte er anschließend die Grundlagen für Gutis U19-Triple-Sieger-Truppe, ehe er im Zuge von Zidanes Beförderung 2016 zum Verantwortlichen der Castilla ernannt wurde. Der Argentinier genießt in Valdebebas einen guten Ruf als Schleifer und Ausbilder von jungen Talenten, ist deshalb auch bei Florentino Pérez sehr beliebt.
Zidane 2.0?
Natürlich schwingt bei Pérez auch die Hoffnung mit, dass der Mann aus Rosario einen ähnlichen Weg wie Zidane einschlägt. Nachdem das „Experiment“ mit „Fußballprofessor“ Lopetegui scheiterte, will man es nun wieder mit einem Trainer versuchen, der über ähnliche Qualitäten wie „Zizou“ verfügt. Solari ist ein „Hombre de la Casa“, ein Mann des Hauses, und weiß aufgrund seiner Vergangenheit, wie die Uhren an der Concha Espina ticken. Er spricht die Sprache der Spieler, scheint das Team zu erreichen.
Meist 4-3-3, Lieblingspositionen für Bale und Kroos
Bislang verzichtet der Argentinier, der in der Castilla vorrangig auf ein 4-2-3-1 zurückgriff, auf großartige taktische Experimente und setzt seine Akteure sehr positionsgetreu (Gareth Bale beispielsweise als Linksaußen, Toni Kroos etwas offensiver) ein. Primär bleibt es beim gewohnten 4-3-3, und während man das Pokalspiel gegen Drittligist Melilla (4:0) kaum bewerten kann, sah es einzig gegen Pilsen (5:0) phasenweise nach dem Castilla-System aus mit Dani Ceballos auf der Spielmacher-Position.
Solaris Plan zielt augenscheinlich darauf ab, um die Einzelqualitäten der Spieler herum, ein funktionierendes Gefüge zu entwerfen und nur situativ einzugreifen. Solari gilt zwar als Anhänger eines gepflegten, klar strukturierten Fußballs und doch eher dem Ballbesitzspiel zugeneigt, doch versteift er sich auf kein Dogma. Eine Linie, mit der bereits Zidane sehr gut gefahren ist – und in Anbetracht der aktuellen Kaderstruktur wohl am besten funktioniert. Auch der Einsatz im Training scheint mehr zu zählen, als noch unter Lopetegui.
Fazit: Abwarten! Feuer entfacht, aber auch erhaltbar?
Wohin dieser Weg führt, ist zum jetzigen Zeitpunkt kaum abzusehen. Solari hat das Team aus einer schwierigen Phase herausgeführt und stabilisiert, dennoch bestehen insbesondere in taktischer Hinsicht noch viele Baustellen, und wann manche Akteure (Luka Modrić, Raphaël Varane) aus ihrem Tief heraus kommen? Dass der 42-jährige “Gaucho” innerhalb von zwei Wochen allerdings keine Wunderdinge vollbringen kann, steht ebenfalls außer Frage. Sicherlich wäre es auch etwas realitätsfern, von Solari ähnliche Erfolge wie unter Zidane zu erwarten. An dieser Erwartungshaltung scheiterte bereits Lopetegui. Doch sind die Voraussetzungen bei „Indiecito“ ein wenig anders: Solari hat das Team mit seinem Charisma und seiner emotionalen wie spieltaktischen Intelligenz hinter sich gebracht. Darauf gilt es in den nächsten Wochen aufzubauen. Und wer weiß, vielleicht hat Solari am Ende der Spielzeit ja ein weiteres Mal Geschichte geschrieben – wünschenswerterweise auf ähnliche Art wie ein gewisser Herr Zidane.
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