Analyse

Identifikationsfigur Toni Kroos: Warum die Querpass-Mär Unsinn ist

Es gibt wohl kaum einen Fußballer, der im Prinzip alles gewonnen hat, was der Weltfußball hergibt, in der (deutschen) Öffentlichkeit jedoch teilweise immer noch kritisch gesehen wird wie Toni Kroos. Immer wieder wird der Spielstil des Mittelfeldstrategen durch die Bezeichnung „Querpass-Toni“ herabgewürdigt. Selbst Legenden wie Uli Hoeneß haben den fünffachen Champions-League-Sieger schon als Auslaufmodell bezeichnet. REAL TOTAL analysiert vor dem Viertelfinal-Rückspiel beim FC Chelsea, warum diese These Unsinn ist.

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Kroos
Toni Kroos verzückt den Madridismo dieser Tage mit Top-Leistungen am laufenden Band – Foto: OSCAR DEL POZO/AFP via Getty Images

Als Uli Hoeneß seinem früheren Schützling nach der EM 2021 absprach, den Anforderungen des modernen Fußballs zu entsprechen, befeuerte der Ex-Bayern-Präsident die Diskussionen um den Spielstil des früheren Müncheners erneut. Objektiv einer der besten deutschen Fußballer aller Zeiten, wird sein auf Spielkontrolle fußendes Spielverständnis immer wieder kritisiert. So meinte Hoeneß im Nachgang der aus DFB-Sicht enttäuschenden EM etwa: „Er passt mit seinem Querpassspiel nicht mehr in diesen Fußball. (…) Seine Art zu spielen ist total vorbei.“ Die Leistungen des Deutschen in dieser Spielzeit sprechen jedoch eine andere Sprache.

Unterschätzte Stärke: Bester Zweikämpfer der Königsklasse

So steht Kroos angesichts überragender Leistungen an der Concha Espina so hoch im Kurs wie noch nie. 812 Ballaktionen (90,2 Ballaktionen pro Spiel), 75 Prozent gewonnene Zweikämpfe und 115 Pässe ins letzte Drittel sind in der diesjährigen Champions-League-Saison absolute Bestwerte. Die größte Überraschung stellt mit Blick auf diese Zahlen die Zweikampfhärte des mittlerweile 33-Jährigen dar. Gegen den FC Chelsea (2:0) spielte Kroos auf der Sechserposition im Dreiermittelfeld und übernahm damit die Aufgabe, die eigentlich Aurélien Tchouaméni zugedacht war. Da der Franzose seit der Weltmeisterschaft nach seiner Top-Form sucht, setzt Ancelotti seither vor allem in großen Duellen auf seinen Strategen.

Touchmap Kroos
Toni Kroos spielte gegen Chelsea zwar nominell als Sechser im Dreiermittelfeld, war de facto aber auf dem gesamten Feld zu finden – Screenshot: DAZN

Dieser scheint sich seiner neuen Rolle zentral vor der Viererkette und der damit verbundenen Defensivarbeit bewusst zu sein. Angesprochen auf seine vielen Zweikämpfe, äußerte er sich nach dem Chelsea-Spiel gewohnt analytisch wie charmant: „Casemiro ist nicht mehr da. Was soll ich machen? (lacht) Von der Aufstellung her war es ein Mittelfeld ohne den klassischen Abräumer. Es kommen ein paar mehr Zweikämpfe dazu, ein paar mehr Aufgaben, wenn du einen Tick tiefer spielst. Gerade in so einem Spiel darf man die dann auch annehmen.“ Und das tat der Weltmeister von 2014 bravourös: Neben seiner fast als „normal“ eingeordneten nahezu perfekten Passquote (94 Prozent) gewann der 33-Jährige 89 Prozent (!) seiner Zweikämpfe. Im Live-Kommentar des Viertelfinalhinspiels bei DAZN bemerkte dies auch Ex-Blanco Sami Khedira, der Kroos im Defensivzweikampf deutlich stärker und robuster wahrnahm.

Kroos Defensivzweikampf
Der Deutsche überzeugte in seiner Rolle vor der Viererkette: In dieser Szene verfolgt er Kanté aggressiv und generiert schließlich die Balleroberung – Screenshot: DAZN

Herausragendes Positionsspiel

Neben seiner beeindruckenden Präsenz im Defensivzweikampf überzeugte Kroos gegen die „Blues“ erneut mit einem herausragenden Positionsspiel, gepaart mit einem ebenso bemerkenswerten Gefühl für den Raum. Indem er sich im Spielaufbau immer wieder in die Position zwischen Innenverteidiger und (primär) linkem Außenverteidiger fallen lässt, eröffnet er nicht nur die Möglichkeit von schnellen Positionsrochaden. Zudem beschäftigt der Deutsche auf diese Weise den Gegner mental. „Es ist immer das Ziel, den Gegner ins Zweifeln zu bringen (…). Das geht am besten mit Positionsveränderungen“, beschrieb Kroos seinen Spielstil vor einigen Monaten in „The Mixtape“ bei Amazon Prime.

Kroos, Positionsspiel
Gegen die „Blues“ ließ sich Kroos immer wieder zwischen Alaba (IV) und Camavinga (LV) fallen, um den Gegner vor Zuordnungsprobleme zu stellen und Zweifel zu sähen – in dieser Szene ist Camavinga jedoch noch nicht hoch genug positioniert – Screenshot: DAZN

Auch gegen Chelsea war Kroos immer wieder in einer solchen Positionierung zu finden. Dies erlaubte vor allem Eduardo Camavinga, aber auch Karim Benzema und Co., ihre Positionen ständig zu verändern. Neben dieser immens intelligenten Spielweise überzeugt der Deutsche aber auch mit entscheidenden Bällen. Zwar spielt Kroos seltener den finalen Pass – gegen Chelsea hatte der Ex-Bayer jedoch sowohl vor dem ersten Treffer (per gezielter Seitenverlagerung) als auch vor dem zweiten Treffer (nach Eckball) mit dem drittletzten respektive vorletzten Pass seine Füße vor dem Torerfolg entscheidend im Spiel.

Kroos, Einfluss offensiv
Kroos (schwarzer Kreis) hat seine Füße oft im Spiel, wenn es gefährlich wird – in dieser Szene bewahrt er unter Gegnerdruck die Ruhe, spielt Carvajal per Verlagerung frei und leitet somit das 1:0 ein – Screenshot: DAZN

Die außergewöhnlichen Qualitäten im Spiel mit und gegen den Ball hob auch Cheftrainer Carlo Ancelotti nach der Partie hervor: „Ich glaube, dass Kroos dir als Sechser sehr beim Spielaufbau und im Positionsspiel hilft. Vielleicht leiden wir dann defensiv ein bisschen mehr, aber das gleicht sich mit kollektivem Einsatz wieder aus. Von Kroos‘ Position hängt also sehr die Arbeit ab, die die Stürmer leisten, vor allem die von Vinícius (Júnior) und auch Rodrygo (Goes), damit das Team kompakt ist. Und ich glaube, der Plan ist aufgegangen.“

Noch längst kein Auslaufmodell: Vorzeichen stehen auf Verlängerung

Angesichts der starken Leistung ist es nur folgerichtig, dass der Mittelfeldstratege den Platz unter dem Applaus des Madridismo verließ. Dass es, wie zuletzt schon gegen den FC Liverpool, lautstarke „Toni, Toni, Toni“-Sprechchöre und Standing Ovations für den gebürtigen Greifswalder gab, unterstreicht den Legenden-Status, den sich Kroos in der spanischen Hauptstadt längst erarbeitet hat.

Ob der Deutsche auch über den Sommer an der Concha Espina spielt, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt. Nicht nur REAL TOTAL geht aber von einer Verlängerung aus – immerhin hat Kroos noch das Ziel, im neuen Bernabéu zu spielen – auch Transferexperte Fabrizio Romano twitterte jüngst, dass die Verhandlungen hinsichtlich einer Verlängerung um eine weitere Spielzeit abgeschlossen seien und der Deal stehe. Zwar gab es bislang weder von Vereins- noch von Spielerseite eine Bestätigung – dass die Königlichen aber unbedingt mit Kroos weitermachen wollen, unterstreichen auch die Aussagen der Verantwortlichen. Ancelotti, der Kroos immer wieder eine „Big-Game-Mentalität“ attestierte, äußerte sich im Februar optimistisch hinsichtlich einer möglichen Verlängerung: „Mir hat er nichts gesagt, aber ich habe ein positives Gefühl, dass er verlängert. Wir werden sehen.“ Ein denkbares Szenario wäre, dass die Verlängerung vor einem möglichen Champions-League-Halbfinale verkündet wird, um auch die letzten Baustellen zu schließen.

Kroos Defensivzweikampf
Toni Kroos bringt in dieser Spielzeit in puncto Defensivzweikampf deutlich mehr Energie auf den Platz – Foto: PAU BARRENA/AFP via Getty Images

Unabhängig davon, ob der Ex-Nationalspieler verlängert oder seine Karriere beendet – einen Vereinswechsel schloss Kroos kategorisch aus – steht jedoch eines fest: Der 33-Jährige ist noch längst kein Auslaufmodell. Die Mischung aus Spielintelligenz, kaum zu greifender Ruhe am Ball, Siegermentalität und in jüngerer Vergangenheit entdeckter Aggressivität im Defensivverhalten sind allesamt Attribute, die den Weltmeister von 2014 noch immer zur Elite der zentralen Mittelfeldspieler zählen lassen. Hinzu kommen Bescheidenheit, Loyalität und Leidenschaft, das königliche Trikot zu verteidigen. Kroos ist nicht „Querpass-Toni“, sondern ein Sinnbild für die sportlichen und charakterlichen Werte Real Madrids und des gesamten Madridismo. Und trotzdem: Den einen oder anderen Kritiker beziehungsweise Augenverschließer – ob bekannt oder unbekannt – wird es wohl immer geben.

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Kommentare
Die CL-Statistiken lesen sich prima, auch wenn sie natürlich nicht alles sind und bei Kroos oft täuschen. Mit dem Begriff Identifikationsfigur tue ich mich bei Kroos auch schwer, weil er das für mich nicht ist.
 
Er wurde von grossen Persönlichkeiten als einer der besten Mittelfeldspieler aller Zeiten angesehen. Selbst ein Xavi meint, dass Kroos ihn sehr an ihm selbst erinnert.

Kroos gehört ohne Zweifel zu den Besten.
 
Die CL-Statistiken lesen sich prima, auch wenn sie natürlich nicht alles sind und bei Kroos oft täuschen. Mit dem Begriff Identifikationsfigur tue ich mich bei Kroos auch schwer, weil er das für mich nicht ist.

In wie weit können Statistiken über Zweikämpfe und Pässe in das letzte Drittel über etwas hinweg täuschen?

Was ist für dich eine Identifikationsfigur oder warum ist Kroos keine?
 
In wie weit können Statistiken über Zweikämpfe und Pässe in das letzte Drittel über etwas hinweg täuschen?

Was ist für dich eine Identifikationsfigur oder warum ist Kroos keine?

Gegen die im Artikel aufgeführten CL-Statisitken in dieser Saison habe ich ja nichts einzuwenden. Warum auch? Das war eher generell gemeint, weil Kroos auf Real Total (besonders bei der Notenvergabe) immer wieder für seine hohe Passquote über den grünen Klee gelobt wird. Dass da häufig spielverschleppende Sicherheitspässe mit einfließen, wird sehr gerne ausgeblendet und mit ''Spielkontrolle'' entschuldigt. Natürlich schrauben zu nichts führende Passspiele um die eigene Abwehr herum die Passquote nach oben. Bei Kroos soll das aber etwas ganz Besonderes sein...

Eine Identifikationsfigur muss mir zunächst sympathisch sein. Mir ist Kroos nicht sympathisch und war es auch nie. Er hinterlässt auf mich einen abgehobenen, kalten Eindruck. Ein trockener Beamtenfußballer ohne Leidenschaft.
 
es ist ein guter Artikel und der liebe Toni kommt viel zu oft hier im Forum, vor allem in der Saison 21/22 auch sehr häufig von mir, viel zu schlecht weg. Das ist klar. Er hat Qualitäten, die seinesgleichen suchen. Aber manchmal werden sie einfach nicht richtig eingesetzt. Und damit meine ich nicht ihn selbst, sondern durch den Trainer. Wenn man ihn als 6er bringt und dafür neben ihn zwei offensivere ZMs aufstellt und gleichzeitig mit drei Stürmern spielt, dann unterschreibe ich die Aufstellung sofort und kann mich auch in der Liga damit anfreunden. Wenn man ihn aber neben einem sehr defensiven 6er bringt und dann mit Modric im Mittelfeld, während Valverde den RF machen muss, dann ist einfach mindestens einer der drei im MF sicherlich überflüssig, weil die Offensive, vor allem wegen den schwachen Außenverteidigern extrem kurz kommt. Und genau deshalb wird dann Kroos häufig angefeindet, weil in dieser Konstellation einfach viel zu wenig Kreativität kommt. Und genau da täuschen auch die Statistiken. Denn jeder Pass von Toni auf Vini und dann wieder zurück auf Toni, dann auf Valverde, dann wieder über Modric auf Toni zu Vini und wieder zurück (so lief die Saison 21/22 besonders in der Liga regelmäßig) führt zu einer besonders guten Statistik im Hinblick auf Pässe in das letzte Angriffsdrittel, aber sprechen keine Sprache über die Effektivität für das Angriffsspiel vor allem im Hinblick auf Kreativität oder das Ausnutzen von Überraschungsmomenten. Unser Gegner greift da ja auch häufig nicht ein, weil die dieses Spiel einkalkulieren und sich sehr tief fallen lassen. So werden eben viele pässe in das letzte Angriffsdrittel zwangsläufig, vor allem auf Kroos Seite mit Vini, gespielt. Zusätzlich verlagert er noch häufig auf die andere Seite mit seinen sehr präzisen Bällen, die aber sehr lange in der Luft sind und dadurch auch keine Überraschung für den Gegner, sodass der RF nach der Ballannahme sich meist wieder fallen lässt oder den Pass zurück spielt. Also abgesehen von der Stabilität, die man vor allem gegen Topgegner braucht, überhaupt keinen Mehrwert für die Offensive.

Die Statistik über seine Zweikämpfe glaube ich erst bzw. messe ich erst Wert bei, wenn ihr Zahlen insgesamt aus dem Tournier vorlegt und das in Relation setzt zu Werten der anderen Mittelfeldspieler aus dem Turnier.

Kroos hat eine unfassbare Qualität am Ball, aber diese ist vor allem im Liga Alltag häufig nicht das, was wir brauchen. Was ich merke, wenn er und Modric beide nicht spielen, dass die Feldspieler wegen ihrer Abwesenheit deutlich nervöser auftreten. Dies ist aber nicht der Fall, wenn zumindest einer von beiden auf dem Platz ist. Also zum Teil auch mentaler Natur geschuldet. Aber das soll ja nicht Kroos schmälern, weil es schon krass ist, wenn du deine Mitspieler mental derart stärken kannst.

Vor allem in der liga kann man, wenn man an das 4-3-3 festhalten will, Kroos als 6er auftreten lassen und damit offensiver auftreten, wenn man den klassischen zdm weglässt. aber wenn man es nicht tut, dann bringt uns seine Qualität nicht viel, weil der Abstand zu Barcelona dann auch in der nächsten Saison so groß sein wird, wenn Barcelona dieselbe Punktausbeute hat. Man ist so nicht in der Lage möglichst viele Spiele durch geballte Offensivpower zu gewinnen. Wozu brauche ich so viel Stabilität, wenn ich gerade Tore schießen muss gegen zu tief stehende Gegner, die darauf spekulieren, dass du viel Ballbesitz haben wirst.
 
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In wie weit können Statistiken über Zweikämpfe und Pässe in das letzte Drittel über etwas hinweg täuschen?

Was ist für dich eine Identifikationsfigur oder warum ist Kroos keine?

Gegen die im Artikel aufgeführten CL-Statisitken in dieser Saison habe ich ja nichts einzuwenden. Warum auch? Das war eher generell gemeint, weil Kroos auf Real Total (besonders bei der Notenvergabe) immer wieder für seine hohe Passquote über den grünen Klee gelobt wird. Dass da häufig spielverschleppende Sicherheitspässe mit einfließen, wird sehr gerne ausgeblendet und mit ''Spielkontrolle'' entschuldigt. Natürlich schrauben zu nichts führende Passspiele um die eigene Abwehr herum die Passquote nach oben. Bei Kroos soll das aber etwas ganz Besonderes sein...

Eine Identifikationsfigur muss mir zunächst sympathisch sein. Mir ist Kroos nicht sympathisch und war es auch nie. Er hinterlässt auf mich einen abgehobenen, kalten Eindruck. Ein trockener Beamtenfußballer ohne Leidenschaft.

Ok, gute Argumentation.

Bin zwar anderer Meinung aber find deine Erklärung schlüssig.

Kroos vereint für mich die Tugenden von Real Madrid. - Fairness, Emphatie, Respekt für alle und jeden ( die sich an Recht und Ordnung und den gesunden Menschenverstand halten) sowie eine Bescheidenheit die ich ihm abnehme.
 

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