
Ein surreales Real Madrid: Auf Spektakel folgt Desaster
MADRID. 9. März 2022: Real Madrid tritt im Estadio Santiago Bernabéu auf und irgendwann im Laufe der Partie stellt sich einem die Frage, ob das, was da gerade geschieht, der Realität entspricht – weil es im positiven Sinne so unfassbar ist.
20. März 2022: Real Madrid tritt im Estadio Santiago Bernabéu auf und irgendwann im Laufe der Partie stellt sich einem die Frage, ob das, was da gerade geschieht, der Realität entspricht – weil es im negativen Sinne so unfassbar ist.
Elf Tage, nachdem die Königlichen die Fußballwelt mit ihrer 3:1-Aufholjagd in der Champions League gegen Paris Saint-Germain entzückt hatten, gehen sie an Ort und Stelle unter. Mit 0:4 mussten sie sich am Sonntag geschlagen geben. Und das auch noch gegen Erzrivale FC Barcelona. Ein Ergebnis, das durchaus noch höher hätte ausfallen können.
Und ein Ergebnis, das die Profis wegen einer weiteren Unterbrechung durch die Nationalmannschaften jetzt mit sich herumschleppen müssen. Erst am 2. April geht es gegen Celta Vigo weiter – zugleich die Generalprobe vor dem Auftakt im Champions-League-Viertelfinale gegen den amtierenden Titelträger FC Chelsea (6. und 12. April).
Schwarzes Trikot, rabenschwarzer Abend
Vom Himmel in die Hölle. Sinnbildlich für dieses Desaster: Das Trikot, mit dem die Akteure von Carlo Ancelotti aufliefen. Nach dem am 6. März zelebrierten 120. Geburtstag entwarf Ausrüster Adidas ein Jersey speziell für den Clásico. Real trug in einem Heimspiel nicht sein himmlisches Weiß, sondern komplett Schwarz – und sah dann auch schwarz. Umso peinlicher: Die Merengues hatten fünf Tage Vorbereitungszeit, während die Katalanen am Donnerstagabend noch in Istanbul gegen Galatasaray antraten.

REAL TOTAL sammelt Erkenntnisse zu dem Fiasko gegen Barça.
Real Madrid ohne Benzema gefühlt in Unterzahl
Weil er seit dem 3:0 bei RCD Mallorca am letzten Montag Beschwerden im Bereich zwischen Wade und Knöchel im linken Bein mit sich schleppt, stand Karim Benzema den Madrilenen im Clásico nicht zur Verfügung. Vor allem auch deshalb, weil ja demnächst schon die Duelle mit Chelsea anstehen. Real braucht den Franzosen dann dringend.
Warum das so ist, hat das Kräftemessen mit Barça so deutlich aufgezeigt wie kein anderes Saisonspiel. Ohne Benzema ist die Offensive praktisch lahmgelegt – trotz der Anwesenheit von Vinícius Júnior. Der Vizekapitän ist mit 32 Toren der mit Abstand beste Schütze im Team, drei davon markierte er per Hattrick erst zuletzt gegen PSG. Die magere Ausbeute, wenn er 2022 gefehlt hat: Real holte gegen den FC Villarreal nur ein 0:0, besiegte den FC Granada erst mit einem späten Treffer durch Marco Asensio in der Schlussphase 1:0, schied im Viertelfinale der Copa del Rey gegen Athletic aus (0:1) und kassierte jetzt als Tiefpunkt das 0:4. Dem stehen seit dem Jahreswechsel ein 3:1 gegen CD Alcoyano und ein 2:1 nach Verlängerung beim FC Elche gegenüber. Tropfen auf dem heißen Stein.
Sicherlich ist das Debakel gegen die Katalanen nicht allein mit Benzemas Abstinenz zu erklären. Abgesehen von seiner Wichtigkeit vor des Gegners Tor geht Real jedoch spielerisch eine Menge ab, wenn die Nummer 9 nicht auf dem Rasen steht. Benzema beteiligt sich bekanntermaßen viel, fordert Bälle, verteilt sie, spielt gute Pässe. Dass Madrid keinen zweiten Akteur wie ihn in den eigenen Reihen besitzt – darum geht es nicht. Vielmehr ist ein halbwegs verlässlicher Vertreter des Franzosen überhaupt nicht vorhanden.
Ein hausgemachtes Problem, weil Ancelotti ebenso wenig wie Vorgänger Zinédine Zidane auf Luka Jović setzt. Nicht mal als erste Alternative zu Benzema, ja sogar nicht mal als zweite. Die Experimente mit Isco, Marco Asensio, Rodrygo Goes und Gareth Bale erwiesen sich allesamt mehr oder weniger für die Katz, gegen Barça sollte Mariano Díaz zur zweiten Halbzeit irgendetwas bewirken. Jemand, der mit seinen vor diesem Wochenende unter 200 Einsatzminuten nicht mal als Teilzeitkraft einzustufen ist. Jović erhielt einmal mehr keine Chance, was auch für Eden Hazard gilt.
Wenn Benzema nicht da ist, ist im Angriffszentrum gefühlt nichts mehr da. Keine torgefährliche Anspielstation. Als würden sie zu zehnt agieren. Eine Erkenntnis, die Ancelotti und den Bossen langsam aber sicher zu denken geben muss. Stichwort Erling Haaland.

Jämmerliche Herangehensweise
„Carletto“ reagierte auf den Benzema-Ausfall, indem er neben Luka Modrić, Casemiro und Toni Kroos mit Federico Valverde einen weiteren Mittelfeldspieler aufbot. Der Uruguayer agierte im 4-4-2 gemeinsam mit Modrić ein wenig vor Casemiro und Kroos, beide sollten so offenbar immer wieder in die Angriffsmitte hervorpreschen, währen Rodrygo Goes und Vinícius eher die Außenpositionen besetzten.
Über diese Umstellung hinaus ging der komplette Matchplan allerdings zu nahezu keiner Phase der Partie auf – wenn überhaupt, dann noch eher in den ersten 15 Minuten. Gegen ein Barça, das ein hohes Pressing anwandte, hatte Real nicht selten bereits im Spielaufbau Probleme. In gegnerischem Ballbesitz klappte selbst das Anlaufen auf den Kontrahenten nicht im Ansatz, selbst Druck entfachen konnte Ancelottis Ensemble so in keiner Weise.
Das Bild, das sich den Madridistas bot, war ein grauenhaftes. Ein zurückgezogenes, defensives, hinterherlaufendes Real. All das im eigenen Stadion. So wie schon in der Hinrunde im Camp Nou (2:1) und im Halbfinale der Supercopa de España (3:2 n. V.), als es letztlich beide Male aber noch gutging. So wie beim Hinspiel in Paris (0:1). Warum tritt die Mannschaft in solchen Begegnungen immer wieder aufs Neue derart passiv auf?
Erinnerungen an die Clásicos um 2010 und 2011 herum wurden wach. Eine Zeit, in der selbst der legendäre Alfredo Di Stéfano kein Blatt vor den Mund genommen und José Mourinho in einer Kolumne für die Sportzeitung MARCA für dessen Spielweise im Bernabéu kritisiert hatte. Am Sonntagabend hat sich der 2014 verstorbene Argentinier sicherlich im Grabe umgedreht. Real bettelte förmlich um Gegentore und bekam sie, dabei ist der Angriff doch die beste Verteidigung. Eine jämmerliche Herangehensweise, für die sich Ancelotti nach Abpfiff auch nur entschuldigen konnte: „Mein Plan, wie ich Barça schlagen wollte, war sehr schlecht. Ich habe kein Problem damit, die Verantwortung auf mich zu nehmen.“
Real Madrid: Neuer Rechtsverteidiger ist ein Muss
Während Éder Militão und David Alaba versagten, ansonsten aber eine starke Saison spielen, mehren sich die schwachen Auftritte von Daniel Carvajal inzwischen. Der Spanier befindet sich in einer bedenklichen Verfassung, auch gegen Barça war er mit einigen Fehlpässen nicht auf der Höhe, dazu gewann er lediglich drei Zweikämpfe. Gegen Real Sociedad hatte er schon einen Elfmeter verschuldet, gegen PSG den Ball vor dem 0:1 verloren. Seine Auswechslung zur Halbzeit kam nicht überraschend. In dieser Form ist der 30-Jährige nur ein Unsicherheitsfaktor und keiner mehr für die Real-Startelf. Der Klub muss das erkennen, im Sommer dringend handeln und sich auf dieser Position verstärken. Kylian Mbappé und gegebenenfalls Haaland dürfen nicht alles sein. Lucas Vázquez agiert meist solide, ist allerdings auch nicht die ideale Besetzung. Schon gar nicht in Spitzenspielen.
Die Liga-Situation als einzig gute Nachricht
Die für den Madridismo einzig gute Nachricht nach diesem Clásico-Abend: Sogesehen dürfte diese Niederlage lediglich für den eigenen Stolz und die Ehre maximal empfindlich sein. Es war kein Aufeinandertreffen im Rahmen einer K.o.-Runde, sondern eines in der Liga.
In dieser ist die Tabellenkonstellation für das weiße Ballett nach wie vor komfortabel. Neun Spieltage stehen aus, neun Punkte hat es Vorsprung auf den FC Sevilla. Die Andalusier hatten es kurz vor dem Clásico mit einem 0:0 gegen Real Sociedad auch nicht zustande gebracht, ein Erfolgserlebnis zu erzielen. Es gilt daher weiterhin, so seltsam es sich anhören mag: Real befindet sich auf dem besten Wege Richtung Meisterschaft – und hat mit diesem krachenden 0:4 nun einen gewaltigen Schuss vor den Bug bekommen. Für die Champions League kann das nur ein dienliches Warnsignal sein.
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