Analyse

Doppelt so viele Tore in Halbzeit zwei: Gründe für Reals „Strategie der Müdigkeit“

Real Madrid prägte die vergangene Saison durch viele späte Tore und Aufholjagden, vor allem in der K.o.-Phase der Champions League, in der es eine „Remontada“ nach der anderen gab. Das Team von Carlo Ancelotti scheint 2022/23 genau da weiter zu machen, wo es in der Vorsaison aufgehört hatte. REAL TOTAL blickt auf die ersten neun Pflichtspiele zurück: Wie oft treffen die Königlichen in der ersten und wie oft in der zweiten Spielhälfte und der Nachspielzeit?

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Real Madrid
Die Königlichen sind körperlich auch in Hälfte zwei noch fit – Foto: IMAGO / ZUMA Wire / Pressinphoto

Real Madrid: Trend der späten Tore fing 2021/22 an

Die Rückspiele der Champions-League-K.o.-Phase 2021/22 und Real Madrids spektakuläre Aufholjagden gegen Paris Saint-Germain, den FC Chelsea und Manchester City auf dem Weg zum 14. Titel sind noch überall präsent. Späte Tore und „Remontadas“ waren jedoch nicht nur ein prägendes Element der vergangenen Königsklassen-Kampagne, denn auch in LaLiga glänzte das Team von Carlo Ancelotti immer wieder nach der Pause oder gar in der Nachspielzeit. Mal drehte man einen Rückstand mit späten Treffern wie beispielsweise am 32. Spieltag in Sevilla (3:2 nach 0:2-Halbzeitrückstand), mal brach man den Widerstand des Gegners erst im letzten Drittel des Spiels wie Zuhause gegen Alavés am 25. Spieltag, als beim 3:0-Sieg der erlösende Führungstreffer erst in Minute 63 fiel.

Wann trifft Real wie oft?

Nach den ersten neun Pflichtspielen zeichnet sich in der aktuellen Spielzeit ein ähnlicher Trend ab. Wie in der Vorsaison setzt Ancelottis Mannschaft entscheidende Akzente gerne erst nach der Pause, nicht selten kurz vor dem Schlusspfiff respektive in der Nachspielzeit.

Bereits am 1. LaLiga-Spieltag wurde beim Aufsteiger UD Almería ein 0:1-Rückstand durch zwei Treffer in der letzten halben Stunde (61. und 75.) gedreht. In Vigo führte Real zur Pause zwar knapp mit 2:1, der Sieg wurde allerdings erst nach dem Pausentee endgültig gesichert (56. und 66.). Anschließend stand es beim dritten Liga-Auswärtsspiel in Folge bei Espanyol lange 1:1, ehe Karim Benzema mit Toren in der 88. Minute und in der Nachspielzeit drei Punkte rettete. Ähnlich verliefen auch die beiden folgenden Heimspiele gegen Betis (2:1) und Mallorca (4:1): Es stand jeweils 1:1 zur Pause und erst in der zweiten Hälfte brachen die Blancos des Gegners Wiederstand.

Nach dem gleichen Muster verliefen ebenfalls die ersten beiden Spiele der Gruppenphase der Champions League: Bei Celtic tat sich Madrid in der ersten Spielhälfte schwer, die Schotten setzten dem Titelverteidiger immer wieder zu und liefen sich müde. Nach der Pause spielten Ancelottis Männer dann all ihre Routine aus und fertigten die Heimmannschaft mit drei Treffern (56., 60. und 77.) ab. Im Heimspiel gegen Leipzig stand es sogar bis zur 80. Minute torlos, ehe Fede Valverdes Tor den Bann brach und Marco Asensio in der Nachspielzeit den Sieg perfekt machte.

Die Statistik belegt den Trend eindeutig: Real Madrid erzielte im bisherigen Saisonverlauf nur acht der insgesamt 24 Tore in der ersten Spielhälfte. Nach der Pause traf das Team doppelt so häufig, wobei drei Treffer in der Nachspielzeit fielen.

Real Madrid: Späte Tore als Strategie

Was in der Saison 2021/22 so wunderbar funktioniert hatte, wird in der aktuellen Spielzeit scheinbar zum System. Real Madrid lässt seine Gegner in der ersten Hälfte wiederholt müde laufen und auspowern, um denn selbst nach der Pause entscheidend zuzuschlagen. Dabei verliert Ancelottis Truppe so gut wie nie die Ruhe, bleibt abgeklärt und wartet auf seine Chancen, die irgendwann zwangsläufig kommen. „Wir haben eine Strategie, die nennt sich ‚die Strategie der Müdigkeit‘. Wir lassen den Gegner in der ersten Halbzeit glauben, wir seien müde und in der zweiten schlagen wir zu“, erklärte Carlo Ancelotti selbst scherzhaft vor dem Derby.

Neben der mentalen Stärke ist die körperliche Verfassung mit der Real seine Gegner in Hälfte zwei oft schlägt eine der Voraussetzungen für den momentanen Lauf. Das Team scheint topfit zu sein. Das bestätigte auch Nacho Fernández nach dem Champions-League-Auftritt gegen RB Leipzig: „Wir sind körperlich sehr gut drauf, haben in der Vorbereitung sehr gut gearbeitet. Das sieht man in allen Spielen. Es ist erst der Anfang und wir sind in einer guten Form.“

Ehrfurcht vor dem „späten Real“ wächst

Nachos letzter Satz klingt auch wie eine Drohung an die Konkurrenz. Die Königlichen sind nicht nur körperlich in einer sehr guten Verfassung, sondern strotzen auch vor Selbstvertrauen. Die Basis dafür wurde in den zahlreichen spektakulären Aufholjagden in der vergangenen Saison gelegt und das Ganze scheint sich in dieser Spielzeit zu verselbstständigen. „Der Gegner macht es gut, doch wir kennen unsere Qualitäten und versuchen, diese in den 90 Minuten auszuspielen. Wir kennen unsere Stärken und uns gelingt es momentan, sie in der zweiten Halbzeit auszunutzen“, so David Alaba nach dem Leipzig-Spiel.

Dieses Selbstbewusstsein und -verständnis lässt auch die Gegner nicht kalt. Es ist frustrierend, wenn ein Team 45 Minuten alles gibt und Real trotzdem keinerlei Anzeichen von Panik und Unruhe zeigt, meist unbeschadet bleibt, um dann selbst in Hälfte zwei gnadenlos zuzuschlagen und alle Bemühungen des Gegners zunichte macht. Das gab auch Leipzigs David Raum am vergangenen Mittwoch unumwunden zu: „Wir haben nicht viel zugelassen, aber dass dann der erste Schuss so reingeht und der den zweiten auch so reinhaut, ist dann natürlich bitter. Das ist dann auch die Qualität von Real.“ 

Diese einzigartige Qualität dieser Real-Mannschaft setzt sich scheinbar in den Köpfen der gegnerischen Teams fest. Dabei hat die Saison tatsächlich erst so richtig angefangen. Dass die Königlichen es aber auch anders können, zeigte das Derbi Madrileño, als das Spiel durch zwei Tore in der ersten Hälfte entschieden wurde.

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Kommentare
"der erste Schuss"???
Ich empfehle ihm das Highlight-Video nochmal anzusehen:
Highlights

Das im Artikel angesprochene "Zurechtlegen" des Gegners und die in dieser Phase erforderliche Dynamik ist auch genau der Grund, weshalb Camavinga als Einwechselspieler (derzeit noch) viel besser funktioniert.
Und weshalb ihn Carlo auch nicht - entgegen der allgemeinen Forumsmeinung - zwingend als Starter sieht...was nicht bedeutet, dass er nicht genauso wichtig ist wie ein Spieler der zu Beginn aufläuft, was Ancelotti ja auch schon so zu Protokoll gegeben hat.
 
Ich genieße es und freue mich sehr darüber, dass man wieder Ehrfurcht, Respekt oder sogar etwas Angst vor uns hat. Selbst Vereine wie City, PSG oder Chelsea haben "Angst" bei einem Stand von 2-0 in der 80. Minute. Herrlich!
 
"der erste Schuss"???
Ich empfehle ihm das Highlight-Video nochmal anzusehen:
Highlights

Das im Artikel angesprochene "Zurechtlegen" des Gegners und die in dieser Phase erforderliche Dynamik ist auch genau der Grund, weshalb Camavinga als Einwechselspieler (derzeit noch) viel besser funktioniert.
Und weshalb ihn Carlo auch nicht - entgegen der allgemeinen Forumsmeinung - zwingend als Starter sieht...was nicht bedeutet, dass er nicht genauso wichtig ist wie ein Spieler der zu Beginn aufläuft, was Ancelotti ja auch schon so zu Protokoll gegeben hat.

Da bin ich ganz bei dir, gilt im übrigen mit Abstrichen auch für Rodrygo. Die beiden von der Bank bringen zu können, ist wohl momentan einfach eine zu starke Waffe und Gold wert. Die Zeit der regelmäßigen Startelfeinsätze wird schon noch kommen.

Ich denke auch, dass es wichtig wäre, wenn man nach der Kroos-Ära einen Spieler in den Reihen hätte, der das Tempo so diktieren kann wie er. Camavinga kann das natürlich lernen, er ist noch verdammt jung. Eventuell muss man aber auch nachlegen am Transfermarkt, was für mich nicht gleichbedeutend wäre mit einem Genickbruch für die Jungen, denn man wird auch künftig einen qualitativ breiten Kader benötigen mit dem ein oder anderen erfahrenen Spieler.
 
Einerseits ist es die Taktik/Planung von Carlo und natürlich die grandiose physische Arbeit von Pintus, anderseits liegt dieses nie aufgeben, immer an sich glauben in der Vereins-DNA und war schon immer einer der Punkte, weshalb ich diesen Klub so derart schätze. Faszinierend auch, wie es von Generation zu Generation weitergegeben wird, wenn man nicht gerade Jovic heißt, oder ein im Nachhinein entlarvter unsportlicher Holzfuß ist.

Durch die Erfolge der letzten Jahre und dem immer wieder erfahren, dass sich dies selbst in scheinbar aussichtslosen Momenten bewährt, haftet dieser Mannschaft mittlerweile so ein Charisma, Selbstverständlichkeit und für mich auch Charme an, der glücklich macht. Das Carlo sich von seiner Sturheit verabschiedet hat und durch ausprobieren der Kinderarmee, Vertrauen in sie gewonnen hat, rechne ich ihm hoch an, unsere Mischung zwischen jung/alt macht Freude...
 
Einerseits ist es die Taktik/Planung von Carlo und natürlich die grandiose physische Arbeit von Pintus, anderseits liegt dieses nie aufgeben, immer an sich glauben in der Vereins-DNA und war schon immer einer der Punkte, weshalb ich diesen Klub so derart schätze. Faszinierend auch, wie es von Generation zu Generation weitergegeben wird, wenn man nicht gerade Jovic heißt, oder ein im Nachhinein entlarvter unsportlicher Holzfuß ist.

Durch die Erfolge der letzten Jahre und dem immer wieder erfahren, dass sich dies selbst in scheinbar aussichtslosen Momenten bewährt, haftet dieser Mannschaft mittlerweile so ein Charisma, Selbstverständlichkeit und für mich auch Charme an, der glücklich macht. Das Carlo sich von seiner Sturheit verabschiedet hat und durch ausprobieren der Kinderarmee, Vertrauen in sie gewonnen hat, rechne ich ihm hoch an, unsere Mischung zwischen jung/alt macht Freude...

Ich habe seitdem auch deutlich mehr Spaß an unseren Spielen. Noch mehr würde es mir gefallen, wenn wir von Beginn an das Spiel machen würden und damit auch die Spiele klarer ausfallen, aber in der WM Saison wird dies schwierig. Die Gegner haben Angst vor den Remontadas, aber sie denken sich bei den vielen knappen Spielen von Real, dass es eine Chance geben kann. Sie spielen stärker auf als sonst und erschweren uns das Spiel. Das kann man durch klare Ergebnisse reduzieren.
 

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