Kommentar

SAD

Vor Real Madrids Jahreshauptversammlung am Sonntag gibt es eine große Frage: Wird Florentino Pérez zur Wahl stellen, den 123 Jahre lang mitgliedergeführten Klub anteilig für Investoren zu öffnen? Und der Klub so eine Sport-Aktiengesellschaft SAD werden? Für REAL TOTAL-Chefredakteur Nils Kern wäre das ein weiterer, trauriger Schritt in eine Richtung, mit der man sich immer weniger identifizieren kann.

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Florentino Pérez will und wird wohl auch den Noch-Verein nachhaltig, im Kern anpassen – Foto: Dan Mullan/Getty Images

Sad. Nein, das ist kein schnell hingetippter Blindtext-Arbeitstitel mit den drei nebeneinander liegenden Tasten. Das ist auch nicht Donald Trumps Lieblingsaussage über alles, was Barack Obama oder andere nicht komplett korrupte Politiker vor ihm veranstaltet haben. Sad ist eine Abkürzung, genauer SAD. Und damit das Hauptthema der letzten Tage, ach, Monate im Madridismo. Denn SAD steht für Sociedad Anónima Deportiva.

Was das mit Real Madrid zu tun hat? Eigentlich noch nicht viel, aber ab Sonntag vermutlich besonders viel. Denn da könnte Florentino Pérez den seit 1902 mitgliedergeführten Klub, also noch ein Club Deportivo Básico (CDB), in so eine Kapitalgesellschaft umwandeln – wenn auch nur teilweise. Wenn also am Sonntag um 9 Uhr die ordentliche Mitgliederversammlung und direkt im Anschluss um 10 Uhr die außerordentliche Mitgliederversammlung stattfinden (REAL TOTAL ist vor Ort dabei), könnte Real Madrids Präsident sein mehr oder weniger heimliches, jahrelanges Ziel zur Wahl stellen. Und diese Wahl wird wohl ähnlich ausfallen wie die letzten Präsidentschaftswahlen: einerseits konkurrenz- beziehungsweise alternativlos, andererseits mit vorhersehbarem Ergebnis aufgrund jahrelanger Aushöhlung eines Wahlsystems mit Socios Compromisarios, also quasi Mitglieder-Wahlmännern, über die der Wahlvorstand mehr und mehr Kontrolle hat. 2009 begann Pérez‘ zweite Amtszeit bei Real Madrid, und allein mit sechs Champions-League-Titeln war kein Klub seitdem erfolgreicher. Keiner! Aber seitdem wurden auch Hürden für Präsidentschafts-Gegenkandidaten teils erhöht, der eine oder andere gute Bekannte nicht nur im Wahlvorstand installiert, die Opposition unter den Socios unter die Oberfläche gedrückt durch teils intransparente Methoden – REAL TOTAL berichtete schon im Januar von der möglicherweise letzten Wahl im Klub. Böse Zungen behaupten längst, Pérez und ein gewisser US-amerikanischer Präsident haben da einige Gemeinsamkeiten…

So könnte jetzt eben die Büchse der Pandora geöffnet werden. Wenn sie das nicht längst schon ist in einem Klub, der zwar den weltweit größten Umsatz verzeichnet, aber eben auch negativ auffällt durch teils exorbitant teure Ticketpreise, nicht für die Öffentlichkeit zugängliche Castilla-Heimspiele, dazu der Vorwurf von immer öfter vergessenen Traditionen (Reals erste Hymne wird nicht mehr gespielt, immer seltenere Verwendung des Namens Santiago beim Stadion, verbannte Fanklub-Banner, aber auch nirgends gezeigte spanische Flaggen) oder die Explosion der Umbaukosten von anfangs 575 Millionen auf schlussendlich 1,3 Milliarden Euro. Nur durch noch mehr Internationalisierung und Kommerzialisierung könne man mit der Premier League und staatsgepuderten Klubs wie Paris Saint-Germain oder Manchester City mithalten, heißt es hier immer wieder. Joa. Trotzdem stand nur Real in zwölf der letzten 15 CL-Halbfinals. Und mit diesem Trugschluss wird teilweise auch der nächste (mögliche) Schritt gerechtfertigt, wenn jetzt wirklich die Tür für Investoren geöffnet werden sollte – egal ob anfangs für „nur“ fünf oder zehn Prozent oder doch gleich 49 (also orientiert am 50+1-Modell der Bundesliga), egal ob durch eine Ausgliederung oder Trennung der wirtschaftlichen Abteilung vom Sport-Teil des Klubs, oder ob wirklich der gesamte CDB in eine SAD umgewandelt wird. Nach so einer elementaren, institutionellen Änderung würde es kaum einen Schritt zurück geben und jahrelang vernachlässigte Socios, denen jetzt offiziell der Verein gehört, wenn auch nur noch in der Theorie, hätten noch weniger Mitspracherecht als eh schon.

Ein jeder darf diesen Schritt gut finden oder auch kritisch sehen. Mich würde es primär eines machen: sad. Traurig. Denn dass Real Madrid nur noch einer von vier CDB in LaLiga ist (neben Athletic, Barcelona und Osasuna) war einer der vielen Gründe, warum mich der Klub schon früh faszinierte. Ein Klub der Fans, keine AG oder Investoren-Hobby. Aber so wie es immer weniger Canteranos in der ersten Mannschaft gibt oder Madrileños im (Estadio Santiago!) Bernabéu oder demokratische Wahlen, so wird meine emotionale Bindung zum (Noch-)Verein immer schwächer. Fußball gehört den Fans, so wie Madrid den Socios – das predigte Pérez selbst oft in der Vergangenheit. Aber während beispielsweise die Bundesliga-Fans erfolgreich den Investoren-Deal der DFL verhindern konnten durch bemerkenswerte Proteste, so ist jene Opposition im Madridismo längst erstickt. Dabei kenne ich sowohl Fans, die einen möglichen Investoren-Einstieg okay finden, als auch viele Socios, die sich ebenfalls vom Gigantismus der ersten Mannschaft mehr und mehr abwenden und lieber zur Castilla, den Frauen oder Basketballern gehen, die alten Trikots tragen.

Auf der Mitgliederversammlung können wahlberechtigte Mitglieder diversen Anträgen zustimmen oder nicht – Foto: realmadrid.com

Schon klar: 37 Fußballer-Titel unter Florentino Pérez können nicht nur durch La Fábrica kommen. Zidanes y Pavónes. Auch nicht durch 20-Euro-Stehplätze oder einen lokalen Hauptsponsor. Keine Frage, aber der Spagat zwischen Tradition und Kommerz ist meiner Meinung nach bei kaum einem Klub so in Schieflage geraten wie bei Real Madrid. Müssen die Ticketpreise wirklich jedes Jahr um fünf Euro steigen auf jetzt beispielsweise gegen Juventus 100 bis 275 Euro? Dazu jährlich steigende Trikotpreise, ein immer noch katastrophaler Ticket-Onlineshop und und und. 2016 nach Madrid gezogen, darf hier mein „Früher war alles besser“-Opaspruch nicht fehlen. Was nicht heißt, dass ich mich mit jungen Mentalitätsmonstern wie Federico Valverde oder Jude Bellingham nicht identifizieren kann, im Gegenteil! Thibaut Courtois schätze ich gerade, weil er sich am häufigsten nach Niederlagen stellt. Aber sie sind eben die Ausnahmen geworden in einem Klub, der immer weniger nahbar, sondern eher abgehoben ist, sein eigenes Ding macht. Sei es mit der (natürlich teils berechtigten aber meiner Meinung nach meist zu überzogenen) Schiedsrichterkritik bei Realmadrid TV oder durch Interview-Boykotts nach Patzern in LaLiga und generell immer mehr eigene gekochte Süppchen auf Social Media und PR-Aussagen statt echte Authenzität und Selbstreflexion aller Akteure. Die Liste geht noch weiter: Von nur einmal im Jahr stattfindenden Trainingseinheiten vor Fans über die Nicht-Teilnahme an der Auswärtsticket-Initiative bis zu meiner Meinung nach einem viel zu kuscheligen Kurs mit dem FC Barcelona als wichtigen Wirtschaftspartner in Spanien.

Ich weiß, ich vermische hier viel, aber all das kommt eben zu meinem seit Jahren gärenden Gefühl, dass sich Real Madrid mehr zum negativen, als zum positiven (teils auch dank gegründeter Frauen-Abteilung und dem overall zukunftweisenden Stadionumbau) entwickelt hat. Und keine Sorge: Die Leidenschaft ist natürlich noch da, dafür habe ich dem Klub auch in meinem Leben zu viel zu verdanken, nicht nur beruflich. Aber sie lässt eben immer mehr nach, wie eine alte Freundschaft aus Schulzeiten, nach der man sich doch irgendwann eingestehen muss, dass man sich immer mehr in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Der eine etwas kapitalistischer, der andere etwas sozialer. So ist das Leben. So ist Real Madrid. Und so ist Florentino Pérez. Ein Prophet, seiner Zeit schon immer voraus, dazu legte er beispielsweise in seiner ersten Amtszeit den Grundstein für das Trainingsgelände in Valdebebas. Aber er ist eben auch ein Mann, der immer mehr will. Und es dann verpackt als: für die Fans… Is’ klar. Wer sich mit solchen Trumps, Infantinos, Bezos’ aber auch Watzkes oder Pérez‘ identifizieren kann: ok. Aber in dieser immer mehr kommerzialisierten, egoistischen und kaum noch solidarischen, nachhaltigen Welt macht mich das als linksgrünversüfften Romantiker primär eines: sad. Hoffentlich wird Real genau das nicht auch…

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von
Nils Kern

Du hast Fragen über REAL TOTAL? Da bin ich bin der Richtige: Chefredakteur und erster Ansprechpartner für Medien, Leser, Fans. ¡Hala Madrid!

Kommentare
Danke für den Artikel. Ich teile deine Meinung zu 100%.

Real Madrid war einfach immer, trotz seiner enormen Größe, anders. Anders im positiven Sinn. Es galt ein gewisser Senorio und der Club gehörte eben immer noch seinen Fans/Mitgliedern. Wenn das wegfällt, wird es mir schwer fallen, Real Madrid in dieser neuen Form noch genauso zu Supporten. Zumal Perez es einem dahingehend sowieso schon immer schwerer machte.

Ich hoffe, dass es viele gibt, die so denken und es soweit geht wie in Manchester, wo Fans einfach ihren eigenen Club-Ableger gründeten. Lieber verfolge ich einen Madrid FC in der unteren Liga, der noch die (ursprünglichen) Werte von Real Madrid vertritt als eine Version meines Herzensclubs, die ich nicht mehr unterstützen kann.
 
Leute Leute ,können wir froh sein ,kein Multimilliarden unternehmen erfolgreich (!!!!! Ganz wichtig!!!!) führen zu müssen.
 
❤️ Danke für die offenen und sicherlich nicht leichten Worten. Verstehe genau was du meinst. Das abgehobene, unnahbare (Schiedsrichterumgang, keine IVs nach Niederlagen) bringen auch mich zur Weißglut. Die Vergesellschaftung des Vereins, bzw ja des Fussballs allgemein, machen diesen Sport immer unattraktiver für mich. Was genau lassen wir hier mit uns machen? In Österreich bräuchte ich schon 3 unfassbar teure Abos um alle Real Spiele sehen zu können. Identifikation mit Spielern & alten Werten - ja! Aber mit einem Verein, der sich so gegenüber Schiedsrichtern und anderen Vereinen/Spielern (Ballon d‘or) verhält - schwierig!
 
Nils, du hast den Nagel vehement zu 200% auf den Kopf getroffen. Das Problem ist aber was soll ich machen. Ich liebe Fussball und kann mir keinen anderen Verrein suchen. Diese ganze Kommerzialisierung geht mir aber sowas auf die Eier. Aber ich glaube mittelfristig werde ich die TV Rechte nicht mehr bezahlen und mich peu a peu verabschieden...Trump und Co. geht gar nicht. Absolutes No Go
 
Leute Leute ,können wir froh sein ,kein Multimilliarden unternehmen erfolgreich (!!!!! Ganz wichtig!!!!) führen zu müssen.
Der Verein würde sowohl in seiner jetzigen, als auch in seiner von Perez angedachten Form weiterhin Umsätze dieser Größenordnung einfahren. Hier geht es nach meinem Verständnis/Infos darum, wer und wie der Verein in Zukunft geführt werden soll.

Perez möchte scheinbar die in festgelegten Intervallen stattfindende Wahl des Präsidenten/Präsidiums, durch das einsetzen einer CEO-Aufsichtsrats-Struktur ersetzen. Dann benötigt es keine Mitgliedervoten mehr, es bestimmt allein der Aufsichtsrat den Vorsitz des Klubs. Kann man mögen, oder aber eben die bisherige Form schätzen, die quasi beinah ein Alleinstellungsmerkmal unseres Herzensklubs ist.

Ich muss immer an Trumps Wahlkampf vor radikalen Evangelikalen denken, als er Ihnen gegenüber äußerte, geht noch einmal zur Wahl und stimmt für mich, ich verspreche Euch - danach müsst Ihr nie mehr wählen gehen...
 
Yo, das kann man so sagen oder fühlen. Ich verstehe nur diesen Teil nicht:

" Und so ist Florentino Pérez. Ein Prophet, seiner Zeit schon immer voraus, dazu legte er beispielsweise in seiner ersten Amtszeit den Grundstein für das Trainingsgelände in Valdebebas. Aber er ist eben auch ein Mann, der immer mehr will. Und es dann verpackt als: für die Fans… Is’ klar. Wer sich mit solchen Trumps, Infantinos, Bezos’ aber auch Watzkes oder Pérez‘ identifizieren kann: ok. Aber in dieser immer mehr kommerzialisierten, egoistischen und kaum noch solidarischen, nachhaltigen Welt macht mich das als linksgrünversüfften Romantiker primär eines: sad. Hoffentlich wird Real genau das nicht auch…"

Heißt das, Perez füllt seine (private) Taschen? Bereichert sich durch Real?
Will mehr für sich? ODER...
Will immer mehr für Real Madrid. Will Real immer größer machen?

Also wir sahen schon viele Traditionsvereine wie sie bestimmte Prozesse und Schritte verpennt haben und untergegangen sind. Sei es sportlich oder finanziell.
Ich finde es ok dass man regelmäßig darüber nachdenkt wie man sich noch besser aufstellen kann um immer noch auf der Spitze zu bleiben.

Ich begrüße diese Entwicklungen nicht, im Gegenteil. Aber Perez und Real Madrid sind da die Falsche Adresse.
Fußball entwickelt sich in die falsche Richtung. FIFA und UEFA fördern es. Die Manschaften wie City, PSG, (eigentlich großteil der Manschaften in Premier League) sind schon lange da. Möchte jemand oder kann jemand behaupten dass Liverpool kein Traditionsverein ist? Manchester United auch..
Die Clubs in Spanien haben es halt schwer weil LaLiga Führung so schlecht ist. Zu viele Skandale, zu wenig Unterstützung für die Clubs. International fällt man immer weiter zurück und dann wird es immer schwieriger. Schaut euch die Manschaften in der Premier League und was für Geld sie nur von TV rechten bekommen. Was eine Manschaft allein für Aufstieg bekommt.

Natürlich kann man darüber diskutieren welche Schritte notwendig sind, welche richtig oder falsch sind. Aber wenn das alles dazu dient Real Madrid langfristig stabil und erfolgreich machen, dann muss man es eben akzeptieren. Außer jemand kommt mit anderen Lösungen. Ich befürchte aber andere Lösungen gibt es in diesen Moment nicht, zumindest wenn man alle Faktoren drum herum betrachtet.
 

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