Die aktuelle Lage und einiges, was noch auf uns zukommen wird, lassen halt nur eine begrenzte differenzierte Ansichtssache zu. Ich versuche den Leuten so weit wie möglich ihre Meinungen, Eindrücke und Prinzipien zu lassen, aber alles hat Grenzen und letztendlich geht es im Leben immer um Kompromisse. Die Freiheit des einzelnen hört dort auf, wo sie die anderer einschränkt. Auch wenn sich viele gerne brüsten, ohne eine gewisse Struktur sind viele nicht überlebensfähig. Corona ist doch das beste Beispiel, es läuft einmal etwas anders und alle "es war immer so, pass dich gefälligst an" Prediger drehen völlig am Rad. Nein es ist nicht alles schlecht, aber die aktuelle Krise deckt so manche Schwäche in unserer Gesellschaft und im Kapitalismus auf, die man sonst gekonnt mit der Macht der Mehrheit ignoriert/kleinredet, und die kann man sehr wohl hervorheben und manchen mal den Spiegel vorhalten.
Zu deinen Punkten:
In einer Kriese ist sich jeder selber der nächste, das ist normal und biologisch verankert. Und dennoch habe ich den Eindruck, dass sich Egoismus in den letzten paar Jahrzehnten stark verstärkt hat. Ist ja auch kein Wunder, uns wird ja von allen Seiten eingetrichtert "du bist speziell, du bist besonders, mach was du willst". Und so gut ich das finde, wir sind letztendlich doch alle auch Teil einer überlappenden Gesellschaft, die aufeinander angewiesen sind. Ich halte nichts von Verallgemeinerungen, wurde selber oft mit "die heutige Jugend" konfrontiert und gibt auch genügend Rentner und Personen mittleren Alters, die ihr persönliches Ego über alles stellen. Trotzdem wird auch Generation Social Media irgendwann lernen müssen, dass das Leben nicht nur aus Instagram und Ausgang besteht und auch sie nicht ewig jung und gesund sein werden. Jede Generation kommt irgendwann wohl oder übel zu dieser Erkenntnis, und wettert über die nächste. Es braucht letztendlich alle, wenn man das ganze so gut wie möglich überstehen will.
Viele europäischen Gesundheitssysteme sind gut und weit besser als die USA oder Länder, die keines haben. Und trotzdem sind halt die meisten gewinnorientiert, was ihnen jetzt böse um die Ohren fliegt. Dass man die gesamte Produktion von Materialien und Medikamenten auslagert und keine Lagerbestände mehr hat ist doch irgendwo wirklich hirnrissig. Bill Gates hat bereits 2015 nach der Ebola Katastrophe vor der nächsten Pandemie gewarnt, man solle sich vorbereiten. Passiert ist das Gegenteil, viele Pharma Konzerne haben die Suche nach Impfstoffen aufgegeben und konzentrieren sich auf lukrative Forschung, die nur wenige betrifft, Spitäler, Gesundheitssysteme und Personal wurden kaputt gespart. Ist alles schön und gut, solange es läuft. In einer Krise wie jetzt bist du dann aber komplett am Arsch. Private Spitäler sind eine tolle Sache, für die 1% Superreichen, die es sich leisten können. Dazu gehören nun mal viele nicht. Es gibt einfach Dinge, die sich schlecht mit Gewinnmaximierung und langfristiger Planung vertragen.
Ich kritisiere nicht den Kapitalismus an sich sondern die Perversität und Kurzsichtigkeit, die er in vielen Ländern mittlerweile erreicht hat. Die USA z.B. hat momentan 3 Mio Arbeitslose. Klingt nach viel, ist aber gemessen an der Gesamtbevölkerung ein Furz und woher kommt das? "Hire and Fire" Mentalität, die Arbeiter dort haben 0 Rechte oder Schutz, sie sind wortwörtlich mittlerweile "Human Resources" (Ich hasse das Wort), angestellt wenn gebraucht und bei den kleinsten Schwierigkeiten wieder entlassen, wer braucht schon (finanzielle) Stabilität. Die USA ist schon lange keine Demokratie oder Kapitalisten Verein mehr sondern eine reine Finanzarestokratie. Hier in Europa ist es noch nicht ganz so schlimm, aber auch hier wird nach und nach alles der Wirtschaft untergeordnet. Ich halte Kommunismus oder Sozialismus genausowenig für die Lösung, aber halt auch nicht Kapitalismus im Endstadium, am ehesten eine Mischform. Es gibt einfach Dinge, die kein Markt dieser Welt je fair wird regeln können, dazu gehören die Grundaufgaben eines Staates, so Dinge wie Schule, Wasser, Strom, ÖV, Gesundheitswesen oder gewisse Auffangnetze für Leute, die ihre (finanzielle) Existenz verlieren. Den Rest kann man meinetwegen gerne an der Börse verspekulieren, zumindest trifft es dann nicht mehr die, die am wenigsten dafür können.
Hardcore Kapitalisten sind in meinen Augen einfach naiv und realitätsfern, genauso wie jede andere Extremform auch. Es gibt kein ewiges Wachstum, weder naturell noch wirtschaftlich. Und genauso wenig kann man alles planen oder gewinnbringend aufziehen. Irgendwo ist dieses Denken für mich auch Audruck der Bequemlichkeit und Sorglosigkeit, die wir in vielen Bereichen des Lebens hatten bzw. immer noch hatten. Wenn ich mir meinen Vater anschaue z.B. Ein toller Mann, der viel erreicht und geleistet hat und dem ich immer dankbar sein werde für die Chancen, die ich durch ihn erhalten habe. Aber wenn er versucht, mir weiss machen zu wollen, dass Menschen von Natur aus kapitalistisch veranlagt sind und einen 8:00 - 17:00 5 Tages Rhythmus haben, muss ich lachen, genauso wie bei der Annahme, es ginge immer so weiter, er könne noch 20 Jahre unbehelligt so arbeiten und dann seine sichere und gute Rente geniessen. Es ist einfach typisch Babybommer Generation. Auch diese hatten Probleme, aber es ist einfacher, wenn man in einer boomenden, sicheren Nachkriegszeit aufwächst, mit normalen schulischen Leistungen einen guten & sicheren Job findet und dann davon leben kann. Er musste sich nicht mit 2 Weltkriegen rumschlagen und auch nicht mit den Auswirkungen der ganzen Klimageschichte, die meine Generation und alle Nachfolgenden noch sehr stark treffen werden. Ich mache meinen Vater nicht zwingend einen Vorwurf, dass er die Dinge so sieht, wie er sie selber erlebt (hat). Aber ich weiss, dass es nicht zwingend seine wahre Natur ist, sondern einfach dass, was man ihm 50 Jahre lang eingetrichtert hat und er macht es sich halt sehr einfach, alles aus seiner Situation zu betrachten und diese als Norm anzunehmen.
Ich will definitiv nicht zurück zum Kommunismus, eine 2te UDSSR oder ein 2tes China braucht glaube ich niemand, habe ich auch nie behauptet. Aber wir als Gesellschaft müssen irgendwo wieder lernen, dass nicht alles 100% planbar und/oder gewinnmaximiert umsetzbar ist und anpassungsfähiger werden so wie mehr Kompromisse einzugehen und langfristige und sozialverträgliche Lösungen zu finden. Corona wird uns noch eine Weile beschäftigen, es wird nicht die letzte Pandemie sein, Digitalisierung und Klimawandel werden die Gesellschaft und Umwelt nachhaltig verändern. Man kann die Augen davor verschliessen und blind ins Messer laufen wie jetzt auch oder man kann es anerkennen und versuchen, sich so gut wie möglich vorzubereiten. Wir werden noch/bzw. wieder Zeiten erleben, in denen der Gewinn Ende Jahr nicht die grösste Sorge sein wird. Wenn du selber auf der Intensivstation liegst oder deine Heimat im Meer absäuft nützt dir alles Geld dieser Welt einen Scheiss.
Der Staat darf nicht zu mächtig sein, einverstanden. Aber wie zu Beginn gesagt braucht der Mensch gewisse Strukturen und Regeln. Anarchie hat zu keinem Zeitpunkt der Geschichte funktioniert, es gab immer hirarchische Strukturen und gewisse Regeln. Ansonsten wären wir immer noch Affen in den Prärien des heutigen Afrika. Bzw. wir hätten Schlösser aus Klopapier und weltweit 50 Mio Infiszierte und 100'000 Tote.
Und danke
@ElPrincipe und
@KainWunder , schön, dass man mal Systemkritik über kann, ohne gleich als Hardcore Sozialist und Feind der Menschheit gehandhabt zu werden